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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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gewesen, als wären sie seit vielen Jahren miteinander vertraut.
    Natürlich hatte Paul beim Aufwachen sofort an mich gedacht, denn wir kannten uns seit unserem zweiten Collegejahr aus einem Seminar über Avantgardedichter. Wir wurden Freunde, weil wir in den Veranstaltungen immer einer Meinung waren, während alle anderen uns widersprachen, mit wachsender Heftigkeit, je weiter das Semester voranschritt, und im Lauf der Zeit war zwischen Paul und mir ein Bündnis entstanden, das nach all den Jahren – mittlerweile fünf – noch spontan aufgegriffen und belebt werden konnte. Er fragte, wie es mir gehe, und spielte dabei auf die Trennung an, von der ihm jemand erzählt haben musste. Ich sagte, abgesehen davon, dass ich den Eindruck hätte, mir fielen womöglich die Haare aus, sei alles ganz okay. Ich erzählte ihm noch, dass außer dem Flügel auch das Sofa, die Stühle, das Bett und sogar das Essbesteck mit R verschwunden waren, da ich, als ich ihn kennenlernte, mehr oder weniger aus einem Koffer gelebt hatte, während er wie ein sitzender Buddha inmitten all der Erbstücke seiner Mutter thronte. Paul sagte, er wisse vielleicht jemanden, einen Dichter, den Freund eines Freundes, der nach Chile zurückgehen wolle und eine Herberge für seine Möbel brauchen könnte. Ein Anruf bestätigte, dass der Dichter, Daniel Varsky, tatsächlich ein paar Gegenstände hatte, von denen er nicht wusste, wohin damit, weil er sie für den Fall, dass er es sich anders überlegen und beschließen sollte, nach New York zurückzukehren, nicht verkaufen wollte. Paul gab mir seine Nummer und sagte, Daniel erwarte, dass ich mich bei ihm meldete. Ich schob den Anruf ein paar Tage hinaus, hauptsächlich, weil ich es irgendwie unangenehm fand, einen Fremden um seine Möbel zu bitten, auch wenn der Weg bereits geebnet war, und weil ich mich außerdem in dem Monat ohne R und seine vielen Besitztümer daran gewöhnt hatte, nichts zu haben. Probleme dämmerten mir nur, wenn doch mal jemand bei mir vorbeikam und ich im Gesicht meines Besuchs gespiegelt sah, dass es, von außen betrachtet, bei mir drinnen, Euer Ehren, erbärmlich auszusehen schien.
    Als ich Daniel Varsky schließlich anrief, nahm er nach einem einzigen Klingeln ab. Es lag eine Vorsicht in dieser ersten Begrüßung, bevor er wusste, wer am anderen Ende der Leitung war, die ich später fest mit ihm und, so wenige mir auch begegnet sind, mit Chilenen überhaupt verbunden habe. Er brauchte eine Minute, um zu sondieren, wer ich war, eine Minute, bis ihm das Licht aufging, das mich als Freundin eines Freundes enthüllte und nicht als irgendeine Durchgeknallte, die anrief – wegen seiner Möbel? Sie habe gehört, er wolle die Sachen loswerden? Oder nur auf Leihbasis abgeben? –, eine Minute, in der ich mich fragte, ob ich mich nicht entschuldigen, auflegen und so weitermachen sollte wie bisher, mit nichts als einer Matratze, Plastikutensilien und dem einen Stuhl. Aber als ihm das Licht einmal aufgegangen war (Aha! Natürlich! Tut mir leid! Das steht alles hier und wartet nur auf Sie!), wurde seine Stimme sanfter und lauter zugleich, entfaltete eine Überschwänglichkeit, die ich bis heute ebenfalls mit Daniel Varsky und, im weiteren Sinne, mit allen verbinde, die jenem Dolch entsprungen sind, der auf das Herz der Antarktis zielt, wie Henry Kissinger einmal gesagt hat.
    Er wohnte ziemlich weit entfernt, ein ganzes Stück uptown, an der Ecke 101st Street und Central Park West. Ich machte unterwegs Station, um meine Großmutter zu besuchen, die in einem Pflegeheim an der West End Avenue lebte. Sie erkannte mich nicht mehr, aber nachdem ich das verwunden hatte, fand ich wieder Spaß daran, mit ihr zusammen zu sein. Meistens setzten wir uns und redeten auf acht oder neun verschiedene Weisen über das Wetter, ehe wir zu meinem Großvater übergingen, der zehn Jahre nach seinem Tod immer noch ein Faszinosum für sie war, als würde sein Leben oder ihr gemeinsames Leben mit jedem Jahr seiner Abwesenheit ein umso größeres Rätsel. Sie liebte es, auf der Couch sitzend, die Empfangshalle zu bestaunen – Das alles gehört mir?, fragte sie in regelmäßigen Abständen, indem sie mit einer ausholenden Geste den ganzen Raum umschlang – und dabei sämtlichen Schmuck auf einmal zu tragen. Bei jedem Besuch brachte ich ihr einen Schokoladenbabka von Zabar’s mit. Sie aß jedes Mal ein Anstandshäppchen, der Kuchen krümelte auf ihren Schoß und klebte ihr an den Lippen, und sobald ich gegangen war,
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