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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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ein Ende nahm, sondern auch, weil etwas in mir jahrelang auf einen solchen Anruf gewartet hatte und er nun, trotz der späten Stunde, gekommen war.
    Ich fragte, wie sie mich gefunden habe. Ich habe beschlossen zu suchen, sagte sie. Aber wie kamen Sie darauf, mich zu suchen? Ich habe Ihren Vater nur einmal getroffen, und das war vor sehr langer Zeit. Durch meine Mutter, sagte sie. Ich hatte keine Ahnung, wen sie meinte. Sie sagte, irgendwann haben Sie ihr einen Brief geschrieben, ob sie noch Gedichte von meinem Vater habe. Wie auch immer, das ist eine lange Geschichte. Ich könnte sie Ihnen erzählen, wenn ich Sie sehe. (Natürlich würden wir uns sehen, sie wusste genau, dass ihr das, worum sie bitten wollte, nicht verwehrt werden konnte, und trotzdem, ihre Zuversicht warf mich um.) In dem Brief stand, Sie hätten seinen Schreibtisch. Haben Sie ihn noch?
    Ich blickte durch den Raum auf den Holztisch, an dem ich sieben Romane geschrieben hatte und auf dessen Oberfläche im Lichtkegel einer Lampe die Stapel von Seiten und Notizen lagen, aus denen ein achter werden sollte. Eine Schublade war einen Spalt weit geöffnet, eine der neunzehn Schubladen, manche größer, manche kleiner, deren ungerade Zahl und seltsame Anordnung, wie mir jetzt, da sie mir plötzlich weggenommen werden sollten, bewusstwurde, die Bedeutung einer Art leitenden, wenngleich geheimnisvollen Ordnung in meinem Leben angenommen hatten, einer Ordnung, die in guten Arbeitsphasen eine fast mystische Qualität gewann. Neunzehn Schubladen jeglicher Größe, manche unter der Tischplatte und andere darüber, deren profane Verwendung (hier Briefmarken, dort Büroklammern) einen weitaus komplexeren Entwurf verbarg, die Blaupause dessen, was sich in Zigtausenden von Tagen auf die Schubladen starrenden Grübelns in meinem Geist herausgebildet hatte, als enthielten sie das Fazit eines störrischen Satzes, die dichteste Formulierung, die radikale Ablösung von allem, was ich je geschrieben hatte, die letztendlich zu dem Buch führen würde, das ich immer schreiben wollte und immer verfehlt hatte. Diese Schubladen stellten eine einzigartige, tiefverwurzelte Logik dar, ein geistiges Muster, das sich auf keine andere Weise ausdrücken ließ als durch ihre genaue Zahl und Anordnung. Oder mache ich zu viel daraus?
    Mein Stuhl war leicht zur Seite geschwenkt und wartete darauf, mich wieder in Habtachtstellung zu bringen. An solchen Abenden machte ich leicht die halbe Nacht durch, schrieb und starrte in die Dunkelheit des Hudson, solange die Kraft und die Klarheit anhielten. Es gab niemanden, der mich zu Bett rief, niemanden, der einen Lebensrhythmus im Duett von mir erwartete, niemanden, dem ich mich fügen musste. Wäre der Anrufer irgendjemand anders gewesen, ich wäre nach dem Auflegen an den Tisch zurückgekehrt, um den ich im Lauf von zweieinhalb Jahrzehnten gleichsam physisch herumgewachsen war, indem ich meine Haltung durch jahrelanges Über-ihn-gebeugt-Sein an seine Form angepasst hatte.
    Einen Augenblick gedachte ich zu sagen, ich hätte ihn weggegeben oder ausrangiert. Oder der Person am Telefon einfach zu erzählen, sie habe sich geirrt: Ich hätte den Schreibtisch ihres Vaters nie besessen. Ihre Hoffnung war verführerisch, sie hatte mir einen Ausweg angeboten – Haben Sie ihn noch? Sie wäre enttäuscht gewesen, aber ich hätte ihr nichts weggenommen, jedenfalls nichts, was sie je besessen hatte. Und ich hätte weitere fünfundzwanzig oder dreißig Jahre an dem Tisch schreiben können, solange mein Geist lebendig blieb und der Drang nicht nachließ.
    Stattdessen sagte ich, ohne innezuhalten und die Folgen zu bedenken, ja, ich hätte ihn. Nachträglich habe ich mich gefragt, warum ich diese Worte, die mein Leben fast unverzüglich aus dem Gleis brachten, so schnell ausgestoßen hatte. Und wenngleich die Antwort auf der Hand liegt, dass es schon aus Freundlichkeit geboten und einfach das Richtige war, Euer Ehren, wusste ich, dass ich es nicht aus diesem Grund gesagt hatte. Ich habe geliebten Menschen im Namen meiner Arbeit schon viel größeres Unrecht getan, und die Person, die mich jetzt um etwas bat, war eine vollkommen Fremde. Nein, ich habe es aus demselben Grund getan, aus dem ich es in einer Geschichte geschrieben hätte: weil mir das Jasagen unvermeidlich schien.
    Ich möchte ihn gern haben, sagte sie. Selbstverständlich, antwortete ich und fragte, ohne mir die Gelegenheit zu geben, es mir anders zu überlegen, wann sie kommen wolle. Ich bin nur
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