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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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vielleicht noch Gedichte von ihm hätten, die sie mir schicken könnten. Ich hatte die Idee, sie irgendwo zu veröffentlichen, um ihm eine Art Denkmal zu setzen. Aber ich bekam nur einen Brief zurück, die kurze Antwort eines alten Schulfreundes, der mich wissen ließ, er habe nichts. Ich musste in meinem Brief etwas über den Tisch geschrieben haben, sonst wäre das Postskriptum allzu merkwürdig gewesen: Übrigens, stand da, möchte ich bezweifeln, dass Lorca diesen Schreibtisch je besessen hat. Das war alles. Ich legte den Brief in die Schublade zu Daniels Postkarten. Eine Zeitlang überlegte ich mir sogar, seiner Mutter zu schreiben, aber am Ende habe ich es nie getan.
    Seitdem sind viele Jahre vergangen. Eine Zeitlang war ich verheiratet, aber jetzt lebe ich, nicht unglücklich, wieder allein. Es gibt Momente, in denen eine Art Klarheit über einen kommt, und plötzlich sieht man durch die Wände hindurch in eine andere Dimension, die man vergessen hatte oder bewusst ausklammern wollte, um mit den verschiedenen Illusionen, die das Leben, insbesondere das Zusammenleben möglich machen, weiterleben zu können. Und an dem Punkt war ich angekommen, Euer Ehren. Ohne die Ereignisse, die ich jetzt schildern will, wäre es wohl dabei geblieben, dass ich nicht mehr oder nur sehr selten an Daniel Varsky gedacht hätte, obwohl die Sachen immer noch in meiner Obhut waren, seine Bücherregale, sein Schreibtisch sowie die Truhe aus einer spanischen Galeone, Strandgut von einem Unfall auf hoher See, die einen kuriosen Kaffeetisch abgab. Das Sofa begann zu verrotten, wann, weiß ich nicht mehr, aber ich musste es wegwerfen. Manchmal war mir danach, auch das Übrige abzuschaffen. In gewissen Stimmungen erinnerte es mich an Dinge, die ich lieber vergessen wollte. So fragt mich gelegentlich ein Journalist, der mich interviewen will, warum ich keine Gedichte mehr schreibe. Entweder sage ich, meine Sachen seien einfach nicht gut, vielleicht sogar grässlich, oder ich sage, ein Gedicht habe immer das Potential zur Vollkommenheit, und das habe mich schließlich verstummen lassen; bisweilen sage ich auch, ich fühlte mich in den Gedichten, die ich zu schreiben versuchte, gefangen, was etwa so viel heißt wie zu sagen, man fühle sich im Universum gefangen oder in der Unvermeidlichkeit des Todes, aber nichts davon ist die Wahrheit darüber, warum ich keine Gedichte mehr schrieb, nicht annähernd, nicht wirklich; die Wahrheit ist, wenn ich es erklären könnte, würde ich vielleicht auch wieder welche schreiben. Anders gesagt, Daniel Varskys Schreibtisch, der im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren mein Schreibtisch geworden war, erinnerte mich an diese Dinge. Ich hatte mich immer nur als vorübergehende Hüterin betrachtet und war davon ausgegangen, dass einmal der Tag kommen würde, an dem ich, wenn auch mit gemischten Gefühlen, von der Verantwortung befreit würde, mit den Möbeln meines Freundes, des toten Dichters Daniel Varsky, zu leben und über sie zu wachen, und dass ich dann frei sein würde umzuziehen, wohin ich wollte, vielleicht sogar in ein anderes Land. Es stimmt nicht ganz, dass die Möbel mich in New York gehalten hätten, aber wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich sie immer als Entschuldigung benutzt habe, all die Jahre geblieben zu sein, auch nachdem längst klargeworden war, dass es in dieser Stadt nichts mehr für mich gab. Und doch, als der Tag da war, warf er mein zuletzt einsames und ruhiges Leben vollständig aus der Bahn.
    Es war 1999, Ende März. Ich saß arbeitend an meinem Schreibtisch, als das Telefon klingelte. Ich kannte die Stimme nicht, die am anderen Ende nach mir fragte. Kühl erkundigte ich mich. Im Lauf der Jahre hatte ich gelernt, mich abzuschirmen, nicht weil so viele Menschen versucht hätten, in meine Privatsphäre einzudringen (manche schon), sondern weil das Schreiben verlangt, mit so vielem achtsam und beharrlich zu sein, dass ein gewisser Unwille zur Verbindlichkeit a priori gegeben ist und auch auf Situationen überschwappt, in denen es nicht nötig wäre. Die junge Frau sagte, wir seien uns noch nie begegnet. Ich fragte nach dem Grund ihres Anrufs. Ich glaube, Sie kannten meinen Vater, sagte sie, Daniel Varsky.
    Beim Klang seines Namens durchfuhr mich ein Schauder, nicht nur wegen des Schocks, zu erfahren, dass Daniel eine Tochter hatte, oder wegen der plötzlichen Erweiterung der Tragödie, an deren Rand ich so lange gelebt hatte, oder gar der Gewissheit, dass meine Obhutschaft
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