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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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noch eine Woche in New York, sagte sie. Wie wäre es Samstag? Das, rechnete ich mir aus, würde mir noch fünf Tage mit dem Schreibtisch lassen. Gut, sagte ich, obwohl eine größere Diskrepanz zwischen meinem beiläufigen Ton und dem Gefühl der Bestürzung, das mich beim Sprechen überkam, kaum möglich gewesen wäre. Ich habe noch ein paar andere Möbelstücke von Ihrem Vater. Sie können alles haben.
    Ehe sie auflegte, fragte ich nach ihrem Namen. Leah, sagte sie. Leah Varsky? Nein, sagte sie, Weisz. Dann erklärte sie sachlich, ihre Mutter, die Israelin sei, habe Anfang der siebziger Jahre in Santiago gelebt. Um die Zeit des Militärputsches habe sie eine kurze Affäre mit Daniel gehabt und bald danach das Land verlassen. Als sie merkte, dass sie schwanger war, habe sie Daniel geschrieben. Sie habe nie eine Antwort von ihm bekommen; er war schon verhaftet worden.
    Als in der Stille, die dann folgte, klarwurde, dass wir mit all den verdaulichen Gesprächshäppchen durch waren und nur die für ein solches Telefonat zu sperrigen Brocken übrig blieben, sagte ich, ja, ich hätte den Tisch lange behalten. Ich hätte immer gedacht, eines Tages würde seinetwegen jemand kommen, sagte ich, aber natürlich hätte ich versucht, ihn früher zurückzugeben, wenn ich Bescheid gewusst hätte.
    Nachdem sie aufgelegt hatte, ging ich in der Küche ein Glas Wasser trinken. Ins Zimmer zurückgekehrt – ein Wohnzimmer, das mein Arbeitszimmer war, weil ich kein Wohnzimmer brauchte –, begab ich mich an den Schreibtisch, als wäre alles beim Alten. Aber natürlich war es das nicht, und beim ersten Blick auf den Computerbildschirm mit dem Satz, den ich abgebrochen hatte, als das Telefon klingelte, wusste ich, an diesem Abend konnte ich unmöglich weitermachen.
    Ich stand auf und setzte mich in meinen Lesesessel. Ich nahm das Buch vom Beistelltischchen, merkte aber, einigermaßen ungewöhnlich, dass meine Gedanken abschweiften. Ich starrte durch den Raum auf den Tisch, wie ich an zahllosen Abenden, wenn ich in eine Sackgasse geraten war und nicht kapitulieren wollte, darauf gestarrt hatte. Nein, Euer Ehren, ich hege keine mystischen Vorstellungen übers Schreiben, das ist eine Arbeit, ein Handwerk wie jedes andere, die Kraft der Literatur, davon bin ich seit jeher überzeugt, liegt im drängenden Willen, sie zu schreiben. Von daher habe ich nie an die Vorstellung geglaubt, der Schriftsteller brauche ein spezielles Ritual zum Schreiben. Notfalls könne ich fast überall schreiben, ebenso gut im Aschram wie in einem belebten Café oder so, habe ich immer betont, wenn ich gefragt wurde, ob ich mit dem Stift oder am Computer schreibe, morgens oder abends, allein oder in Gesellschaft, auf einem Sattel wie Goethe, stehend wie Hemingway, liegend wie Twain und so weiter, als gäbe es ein Geheimnis, um den Safe zu knacken, in dem der Roman, der angeblich in jedem von uns schlummert, voll ausgestaltet und publikationsfertig bereitliegt. Nein, was mich bestürzte, war die Aussicht darauf, meine vertrauten Arbeitsbedingungen zu verlieren; es waren sentimentale Gefühle, die sich Luft verschafften, sonst nichts.
    Es war ein Rückschlag. Etwas Melancholisches hing der ganzen Sache an, eine Melancholie, die mit der Geschichte von Daniel Varsky begonnen hatte, aber jetzt zu mir gehörte. Doch es war kein nicht wiedergutzumachendes Problem. Morgen früh, beschloss ich, würde ich losgehen und mir einen neuen Schreibtisch kaufen.
    Es war nach Mitternacht, als ich einschlief, und wie immer, wenn ich, in irgendeine Schwierigkeit verstrickt, zu Bett gehe, hatte ich einen unruhigen Schlaf und lebhafte Träume. Aber morgens konnte ich mich, trotz des verschwommenen Eindrucks, durch epische Breiten geschleift worden zu sein, nur an ein Fragment erinnern – einen Mann, der draußen vor meinem Haus stand, zu Tode frierend in dem eisigen Wind, der von Kanada her, direkt vom nördlichen Polarkreis, durch die Schneise des Hudson wehte, und mich, als ich vorbeiging, bat, an einem roten Faden, der ihm aus dem Mund hing, zu ziehen. Von Mitleid gequält, tat ich ihm den Gefallen, aber beim Ziehen häufelte sich der Faden zu meinen Füßen auf. Als mir die Arme erlahmten, blaffte der Mann mich an, ich solle weiterziehen, bis wir nach einer gewissen Zeit, verdichtet, wie es nur in Träumen möglich ist, beide glaubten, am Ende dieser Schnur müsse sich etwas Entscheidendes befinden; oder vielleicht konnte nur ich mir den Luxus leisten, es zu glauben oder nicht,
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