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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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verschenkte sie den Rest an die Pflegerinnen.
    In der 101st Street angelangt, ließ Daniel Varsky mich mit dem Summer herein. Während ich in dem schmuddeligen Eingang vor dem Aufzug wartete, kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich seine Möbel vielleicht gar nicht mögen würde, dass sie dunkel oder sonst wie bedrückend sein könnten und es dann zu spät wäre, einen eleganten Rückzieher zu machen. Aber im Gegenteil, als er die Tür öffnete, war mein erster Eindruck Licht, so sehr, dass ich blinzeln musste und sein Gesicht einen Augenblick nur als Silhouette sah. Außerdem roch es nach etwas Gekochtem, das sich später als ein Auberginengericht entpuppte, dessen Zubereitung er in Israel gelernt hatte. Nachdem meine Augen sich angepasst hatten, entdeckte ich überrascht, dass Daniel Varsky jung war. Ich hatte jemand Älteren erwartet, da Paul gesagt hatte, sein Freund sei ein Dichter, und da wir uns selbst, obwohl wir beide Gedichte schrieben oder es jedenfalls versuchten, aus Prinzip nie Dichter nannten – die Bezeichnung Dichter behielten wir denen vor, deren Werke für veröffentlichungswürdig befunden worden waren, nicht nur in dieser oder jener obskuren Zeitschrift, sondern in einem richtigen Buch, das man in der Buchhandlung kaufen konnte. Rückblickend erscheint das als eine beschämend konventionelle Definition dessen, was unter einem Dichter zu verstehen sei, aber damals liefen Paul und ich und andere, die sich ihres hochentwickelten literarischen Feinsinns rühmten, noch mit ungebrochenen Ambitionen durch die Welt, und in gewisser Weise machten die uns blind.
    Daniel war dreiundzwanzig, ein Jahr jünger als ich, und wenngleich er noch kein Buch mit Gedichten veröffentlicht hatte, schien er seine Zeit doch besser oder phantasievoller genutzt zu haben; vielleicht könnte man auch sagen, er war von einem Drang erfüllt, andere Orte kennenzulernen, Menschen zu treffen und Erfahrungen zu sammeln, der mich immer, wenn ich ihn bei irgendwem gespürt habe, neidisch gemacht hat. Er war die letzten vier Jahre herumgereist, hatte in allen möglichen Städten gelebt, auf dem Fußboden der Wohnungen seiner Bekanntschaften von unterwegs und manchmal, wenn er seine Mutter, oder vielleicht war es seine Großmutter, überreden konnte, ihm Geld zu überweisen, in eigenen Wohnungen, aber jetzt wollte er endlich nach Hause, um seinen Platz an der Seite jener Freunde einzunehmen, mit denen er aufgewachsen war, die in Chile für Befreiung, die Revolution oder zumindest den Sozialismus kämpften.
    Die Auberginen waren fertig, und solange Daniel den Tisch deckte, sollte ich mich umschauen und mir die Möbel ansehen. Die Wohnung war klein, aber es gab ein großes Fenster nach Süden, durch welches das ganze Licht einfiel. Das Erstaunlichste an diesen Räumlichkeiten war das Durcheinander – Papiere überall auf dem Boden, kaffeeverschmierte Styroporbecher, Notizbücher, Plastiktüten, billige Gummischuhe, lose Schallplatten neben leeren Hüllen. Jeder andere hätte sich genötigt gefühlt, Entschuldigen Sie das Durcheinander zu sagen, oder etwas Witziges über den Durchzug einer Herde wilder Tiere, aber Daniel verlor kein Wort darüber. Die einzige mehr oder weniger freie Oberfläche boten die Wände, kahl bis auf ein paar angepinnte Pläne von Städten, in denen er gelebt hatte – Jerusalem, Berlin, London, Barcelona –, und an manche Straßen, Ecken oder Plätze hatte er Bemerkungen gekritzelt, die ich nicht so schnell verstand, weil sie auf Spanisch waren, doch es wäre wohl etwas unpassend gewesen, wenn ich den Hals gereckt und versucht hätte, sie zu entziffern, während mein Gastgeber und Wohltäter das Besteck auslegte. Also wandte ich mein Augenmerk der Einrichtung zu, oder dem, was ich unter dem Durcheinander davon sehen konnte – ein Sofa, einen großen Holztisch mit zahllosen Schubladen, manche größer, manche kleiner, ein zweiteiliges Bücherregal, vollgestopft mit Sachen auf Spanisch, Französisch oder Englisch, und das schönste Stück, eine Art Truhe oder Kiste mit Eisenbeschlägen, die aussah wie von einem gesunkenen Schiff gerettet und nun als Kaffeetisch nutzbar gemacht wurde. Er musste sich alles secondhand beschafft haben, kein Gegenstand wirkte neu, aber jeder einzelne hatte etwas Angenehmes in Einklang mit dem Ganzen, und die Tatsache, dass sie unter Papieren und Büchern erstickten, machte sie nur noch attraktiver. Plötzlich durchflutete mich ein Gefühl von Dankbarkeit gegenüber ihrem
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