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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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ein Schweigen, das für alles stand, was nicht laut gesagt werden durfte.
    Sein Äußeres war tadellos: kein Haar, das nicht an seinem Platz gewesen wäre, kein Fussel auf seinem dunklen Anzug. Sogar seine Schuhsohlen schienen unzerkratzt, als berührte er selten den Boden. Ich werde nur ein paar Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, sagte er. Dann, verspreche ich, lasse ich Sie in Frieden.
    In Frieden!, hätte ich beinahe laut geschrien. Sie, der mich all diese Jahre gequält hat! Mein Feind, der eine Ecke der Frau, die ich liebte, in Beschlag genommen hat, eine Ecke wie ein schwarzes Loch, das durch irgendeine Zauberei, die ich nie verstanden habe, ihr tiefstes Wesen enthielt.
    Es fällt mir schwer, anderen meine Arbeit zu beschreiben, begann er. Ich bin es nicht gewöhnt, von mir selbst zu sprechen. Mein Geschäft war immer das Zuhören. Die Leute kommen zu mir. Zuerst sagen sie nicht viel, aber langsam kommt es heraus. Sie schauen aus dem Fenster, blicken auf ihre Füße, starren auf irgendetwas hinter mir im Raum. Sie sehen mir nicht in die Augen. Denn wenn sie sich an meine Anwesenheit erinnerten, wären sie vielleicht nicht mehr in der Lage, sich auszusprechen. Sie beginnen zu erzählen, und ich gehe mit ihnen in ihre Kindheit, in die Zeit vor dem Krieg zurück. Zwischen ihren Worten sehe ich die Art und Weise, wie das Licht auf den Holzfußboden fiel. Wie er seine Soldaten unter dem Gardinensaum aufreihte. Wie sie die kleinen Teetassen aus der Puppenstube deckte. Ich krieche mit ihm unter den Tisch, fuhr Weisz fort. Ich sehe, wie sich die Beine seiner Mutter durch die Küche bewegen, und die dem Besen der Haushälterin entgangenen Brotkrümel. Ihre Kindheit, Mr.   Bender, weil jetzt nur noch die zu mir kommen, die damals Kinder waren. Die anderen sind tot. Als ich mit dem Geschäft begann, waren es meistens Liebende. Oder Ehemänner, die ihre Frauen, und Frauen, die ihre Männer verloren hatten. Sogar Eltern. Allerdings nur selten – die meisten hätten meine Dienste unerträglich gefunden. Diejenigen, die gekommen sind, haben kaum etwas gesagt, gerade genug, um das Gitterbettchen eines kleinen Kindes oder seine Spielzeugkiste zu beschreiben. Und ich, ich höre zu wie ein Arzt, ohne ein Wort zu sagen. Aber mit einem Unterschied: Wenn endlich alles ausgesprochen ist, sorge ich für eine Lösung. Es ist wahr, ich kann die Toten nicht ins Leben zurückholen. Aber ich hole den Stuhl zurück, auf dem sie einmal gesessen, das Bett, in dem sie geschlafen haben.
    Ich musterte seine Gesichtszüge. Nein, dachte ich jetzt. Ich habe mich geirrt. Er kann es nicht sein. Ich weiß nicht wieso, aber als ich sein Gesicht betrachtete, wusste ich es. Und zu meiner Überraschung empfand ich den bitteren Geschmack einer Enttäuschung. Es gab so vieles, was wir einander hätten sagen können.
    Jedes Mal kommt ein großes Staunen über die Menschen, fuhr Weisz fort, wenn ich am Ende mit dem Gegenstand ankomme, von dem sie ein halbes Leben lang geträumt, den sie mit dem ganzen Gewicht ihrer Sehnsucht beladen haben. Es trifft sie wie ein Schock. Sie haben ihre Erinnerungen an etwas Fehlendem festgemacht, und plötzlich erscheint das verschwundene Objekt. Sie können es kaum glauben, als hätte ich das geplünderte Gold und Silber aus dem vor zweitausend Jahren von den Römern zerstörten Tempel erscheinen lassen, die von Titus erbeuteten heiligen Objekte, die durch ihr geheimnisvolles Verschwinden den verheerenden Verlust so vollkommen machten, dass kein sichtbares Zeichen mehr blieb, nichts, was den Juden davon hätte abhalten können, einen Ort in eine Sehnsucht zu verwandeln, die er auf seinen Wanderschaften überallhin mitnehmen konnte, für immer.
    Wir saßen schweigend da. Dieses Fenster da, sagte er schließlich, den Blick über mich hinweg gerichtet. Wie ist es zerbrochen? Ich war überrascht. Woher wissen Sie das?, fragte ich. Einen Augenblick war ich verunsichert, ob mir nicht doch etwas Sinistres an ihm entgangen war. Die Scheibe ist neu, sagte er, und der Kitt ist noch frisch. Jemand hat einen Stein hineingeworfen, sagte ich. Sein scharfes Gesicht nahm einen weicheren, nachdenklichen Ausdruck an, als hätten meine Worte eine Erinnerung in ihm geweckt. Der Moment ging vorbei, und er begann wieder zu sprechen:
    Aber der Schreibtisch, wissen Sie – der ist nicht wie die anderen Möbelstücke. Ich muss gestehen, manchmal war es unmöglich, genau den Tisch, die Truhe oder den Stuhl zu finden, die meine Kunden suchten. Die
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