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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Autoren: Henry Slesar
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zur Linken waren in beleuchteten Vitrinen die neuesten werbetechnischen Proben der Agentur Hagerty & Tait ausgestellt. An der blauen Wand zur Rechten lagen in dunklen Kästen Attrappen der Kundenerzeugnisse. An der gelben Wand in der Mitte hing eine gargantuanische Wagenraduhr, deren Zeiger symmetrisch auf neun wiesen.
    Statt sich sofort in sein Arbeitszimmer zu begeben, ging Dave durch den links gelegenen Korridor zur künstlerischen Abteilung. Im Korridor war es finster, aber im Atelier brannte Licht, und durch Janey Hagertys Tür fiel ein sanfter Schein. Dave klopfte einmal und drehte dann den Knauf.
    »Gütiger Gott!« sagte Janey, von ihrem Zeichentisch aufblickend. »Wie kommst du denn mitten in der Nacht hierher?«
    »Getrieben von heißer Leidenschaft«, sagte Dave und machte die Tür mit theatralischer Gebärde hinter sich zu. »Los, zieh dich aus!«
    »Nicht vor meinem Kaffee! Hast du eine Zigarette?«
    Er gab ihr eine Zigarette, die sie anzündete – kühl bis in die Knochen. Alles, was Janey tat, strömte Kühle aus. Sie war hübsch und hätte schön sein können, wenn sie ein wenig mehr Wert auf Schönheit gelegt hätte. Das Haar trug sie kurz, mit fast männlichem Schnitt, weil sie Lockenwickler und Dauerwellen verabscheute. Das scharf gemeißelte Gesicht mit dem zarten Milchglasteint war kaum geschminkt, weil sie es so umständlich fand, sich herzurichten. Sie ging ›vernünftig‹ gekleidet. An einer weniger wohlgerundet kompakten Figur hätte diese Kleidung salopp gewirkt. An ihr sah sie gut aus.
    »Um die Wahrheit zu gestehen, liebe Janey«, sagte Dave, »ich habe ein anstrengendes Wochenende verbracht. Ich war in Sword’s Point bei Bob Bernstein.«
    »Anstrengend ist das richtige Wort. Du siehst aus, als ob du Kohlen geschaufelt hättest.«
    Er erzählte ihr von dem Unfall und stellte befriedigt fest, daß ihr Blick zärtlicher wurde. Aber sie kam rasch über diese Stimmung hinweg und fragte: »Wie geht es Bernstein? Ist er wütend darüber, daß man ihm den Burke-Job weggenommen hat?«
    »Vermutlich. Seit die Burkes Kunden der Agentur sind, hat er alle ihre Werbedrucksachen fotografiert. Er kann nicht verstehen, warum wir ihn mitten in der neuen Werbekampagne durch einen anderen ersetzt haben. Ich konnte es ihm auch nicht sagen.« Janey sah nachdenklich drein. »Er ist ein guter Fotograf. Einer der besten.«
    »Was also hat die Herrschaften veranlaßt, ihn fallenzulassen?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte Onkel Homer ihn ganz einfach satt bekommen. Vielleicht wollte Kermit Burke einen neuen Mann haben. Wer soll das wissen?«
    »Ich finde es schändlich.« Dave ging zu ihrem Anschlagbrett hin und betrachtete den mit Reißzwecken befestigten Probeentwurf für eine ›Burke-Baby-Food‹-Anzeige. »Wenn du mich fragst – er macht fabelhafte Bilder. Du bist doch für die künstlerische Gestaltung der Burke-Werbung verantwortlich – hat man dich nicht zu Rate gezogen?«
    Janey antwortete nicht, und Dave befürchtete, einen wunden Punkt berührt zu haben.
    Grinsend fuhr er fort: »Hör mal, das war ein echt gutes Buch, das du mir geliehen hast.«
    »Das älteste Zeitalter der Dichtkunst? Fein, daß es dir gefällt.«
    »Dies ist der Gruß der Morgendämmerung!« zitierte Dave. »Gar nicht übel.«
    »Ach ja.« Sie nahm den Bleistift zwischen die Lippen und betrachtete mit schief geneigtem Kopf das Layout auf ihrem Skizzenblock. »Mir gefällt diese Zeile besser: ›Delikatessenhändler in Cleveland – Achtung!««
    Sie lachten. Dann sagte Dave: »Ich werde dieses kleine Meisterwerk heute vormittag brauchen. Gordon will es sehen.«
    »Aber nicht heute. Heute bleibt er zu Hause. Du kannst dich an Königin Tait wenden. Sie kommt im Laufe des Vormittags ins Büro.«
    »Gordons Frau? Wieso?«
    Janey zuckte die Achseln. »Frag mich nicht, warum Ihre Königliche Hoheit dieses und jenes tut. Vor etwa einer Stunde hat sie angerufen. Die Haustelefonistin war noch nicht da, deshalb habe ich das Gespräch über die Nachtleitung entgegengenommen. Sie hat irgendwas gemurmelt, daß Gordon sich nicht wohl fühle, aber daß sie mit der Bahn in die Stadt fahre, um Onkel Homer aufzusuchen.«
    »Was fehlt Gordon?«
    »Eine Virusgeschichte. Ihre Königliche Hoheit hat nicht geruht, mir nähere Einzelheiten mitzuteilen.«
    »Sag mal, was hast du nur gegen Mrs. Tait?«
    »Wer? Ich? Ich liebe dieses bezaubernde Wesen. Ich habe ihr Bild auf meinem Toilettentisch stehen. Jeden Morgen stecke ich Nadeln
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