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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Autoren: Henry Slesar
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Freilich war der Chef der Firma Janeys Onkel, aber ihre Stellung hatte Janey sich durch ihren begabten Zeichenstift errungen. Nach weiteren sechs Monaten war es Dave, der ihr diesen Stift spitzte.
    Nur eines war an Janey Hagerty auszusetzen: sie hatte es mit der Kultur. Dave betrachtete das Buch in seiner Hand, warf dann verstohlen einen Blick auf den dicken Mann, der neben ihm über seiner New York Times schnaufte, und begann zu lesen.
    Die Geschichte der Sanskrit-Literatur ist schwer zu ordnen, weil es ihr an zuverlässigen Daten fehlt. Sie läßt sich jedoch ohne weiteres in zwei Perioden gliedern, die vedische und die klassische...
    Ein wenig salonfähiger Ausdruck schoß Dave durch den Kopf. Dann kehrte er seufzend zum Text zurück. Schließlich fand er auf der dritten Seite ein Gedicht, das von sehr viel weißem Raum umgeben war. Er als Werbefachmann wußte das zu schätzen. Das Gedicht hieß ›Gruß der Morgendämmerung!‹
    Lausche der mahnenden Stimme der Dämmerung!
    Sieh diesem Tag entgegen!
    Denn er ist Leben, das wahre Leben des Lebens,
    In seinem kurzen Lauf liegen alle Wahrheiten
    Und alle Wirklichkeiten unseres Daseins:
    Der Segen des Wachstums,
    Der Ruhm der Tat,
    Der Glanz der Schönheit.
    Denn das Gestern ist nur ein Traum
    Und das Morgen nur eine Vision.
    Aber das Heute...
    Nicht schlecht, dachte Dave ohne innere Überzeugung. Er legte den Zeigefinger zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und betrachtete durchs Fenster die vorbeihuschende Szenerie, die weiße Landschaft, die still und stumm unter dem ersten Schnee des Jahres lag, den friedlich aufsteigenden Rauch über den kleinen Häusern längs der Strecke.
    Sieh diesem Tage entgegen! dachte Dave Robbins.
    Er machte das Buch zu, holte seine tägliche Vormerkliste aus der Tasche und fuhr mit dem Finger den mit Bleistift geschriebenen Notizen entlang.
    Muß erledigt werden – 3. Januar
Mit Ross wegen der Geschenkbeilagen für die ›Sugar- Baby‹-Packungen sprechen. Vorschlag: Atom-U-Boot aus Plastik, genannt ›Nautilus‹?
Mit Tait die Verkaufspropaganda der Delikatessenfirmen in Cleveland besprechen.
Mit der Gräfin die Fernsehsendung in Cincinnati für Mama Maggies Apfelkuchen besprechen.
Nachprüfen wegen der Pflaumenkonserven, die angeblich in den Ladenregalen geplatzt sind.
Janey sagen, daß mir ihr Buch großartig gefallen hat.
    Zehn Minuten vor neun fuhr der Zug mit kreischenden Bremsen im Grand Central ein, und Dave ließ sich von der brodelnden Menge auf die Straße hinaustragen. Um neun traf er im Büro ein. Noch nie war er so früh erschienen, seit er vor fast achtzehn Monaten in die Firma Hagerty & Tait eingetreten war.
    Er hatte als Werbeberater und Assistent des geschäftsführenden Direktors und Firmenteilhabers Tait begonnen. Beide hatten dabei gut abgeschnitten. Dave war noch recht neu in der Branche und hatte kaum mehr als ein Jahr einschlägiger Praxis hinter sich. Zwei Kriege und ein verschlepptes Hochschulstudium hatten ihm erschwert, Fuß zu fassen, deshalb hatte er nichts dagegen, im Alter von dreiunddreißig Jahren ›Assistent‹ genannt zu werden. Er betreute sämtliche Details der Werbung für die Konservenfirma ›Burke-Baby-Foods‹, die wichtigste Kundin der Agentur, und war voll verantwortlich für die Backwarenabteilung der ›Burke-Foods-Company‹. Tait hatte also weiter nichts zu tun, als die Burke-Leute bei Laune zu halten. Darüber hatte Dave sich oft bei Janey beklagt, bis sie ihn darauf aufmerksam machte, daß die Aufgabe, Kermit Burke bei guter Laune zu halten, an und für sich bereits den vollen Arbeitstag beanspruche.
    Als er im zwölften Stockwerk den Aufzug verließ, kam ihm abermals zu Bewußtsein, wie früh er dran war. Im Vestibül war niemand zu sehen außer der Empfangsdame Jody, und auch sie hatte noch nicht Zeit gehabt, sich in ihren Roman zu vertiefen. Als sie Dave erblickte, zwinkerte sie verdutzt mit den Augen und vergaß ganz, ihr professionelles Lächeln aufzusetzen.
    »Na, heute sind wir aber früh dran!« sagte sie.
    »Ein grauenvolles Mißverständnis! Bin ich der erste?«
    »Nein. Miss Hagerty ist schon seit acht Uhr hier.« Sie musterte seinen mit Ruß verschmierten Mantel. »Soll ich Kaffee für Sie bestellen oder wollen Sie warten?«
    »Jetzt gleich«, sagte Dave. Er blieb am Tisch stehen und sah sich um. Ursprünglich war der Raum in altamerikanischem Stil gehalten gewesen, bis jemand auf die Idee kam, jede Wand in einer anderen lebhaften Farbe zu streichen. An der roten Wand
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