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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Autoren: Henry Slesar
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früher einmal liebevoll in den eisernen Backherden im Erdgeschoß seines Ahnenschlosses zubereitet worden waren. Nach seinem Tode aber kam die Gräfin auf schlauere Gedanken und richtete ihre Lorgnette auf den großen amerikanischen Markt für Massenprodukte. Nun erzeugte ihre Firma als Abteilung des Burke-Konzerns biedere Apfel-, Kirsch-, Blaubeer-, Zitronen-, Ananas- und Schokoladekuchen, kleine kreisrunde Törtchen mit einem Durchmesser von fünfzehn Zentimetern, auf deren Wachspapierhüllen Mutti zu sehen war, wie sie stolz auf einem Teller eine dampfendheiße Kuchenpastete präsentierte, nebst dem Markennamen ›Mama Maggie‹. Der selige Graf hätte diese Art von Obstkuchen nicht gebilligt, wäre aber zweifellos über das Bankkonto der Firma erfreut gewesen.
    Erst vor einem Jahr hatte Kermit Burke sich für die kleinen Kuchen der Gräfin zu interessieren begonnen. Der Erwerb ihrer Firma war eines seiner Lieblingsprojekte gewesen, und er hatte die Einzelheiten persönlich gehandhabt. Es war der Gräfin nicht leichtgefallen, auf ihre geschäftliche Souveränität zu verzichten, aber sie sah die finanziellen Vorteile, und diese waren wichtiger als aller Stolz. Außerdem behielt sie ihren GeneraldirektorinnenTitel und ihre Machtbefugnisse als Chefin der Backwarenabteilung bei.
    Trotz ihrer Bereitschaft, den großen amerikanischen Markt zu beliefern, konnte die Gräfin nach wie vor nicht von gewissen europäischen Ressentiments lassen. Anfangs hatte Gordon Tait die Werbung für sie durchgeführt, aber sie hatte seine Dienste nur widerstrebend entgegengenommen. Er war ihr allzu amerikanisch: zuviel Bürstenhaarschnitt, zuviel Jovialität, zuviel Tweed. Mit ihrem neuen Werbefachmann, Dave Robbins, war sie hingegen sehr zufrieden. Er war ein Mann nach ihrem Sinn: von aristokratischer Schlankheit, schwarzäugig und schwarzhaarig, außerordentlich höflich, charmant, jung, aber nicht zu jung. Bei den Besprechungen rückte er ihr den Stuhl zurecht, gab ihr Feuer, schmeichelte ihr, merkte es sofort, wenn sie ein neues Kleid oder eine andere Frisur hatte. Der Presse gegenüber gab die Gräfin ihr Alter mit einundvierzig an. Im vertraulichen Privatgespräch gestand sie weitere sieben Jahre zu. In Wirklichkeit war sie sechsundfünfzig.
    Als Dave das Gebäude betrat, überlegte er rasch, wie er das Gespräch einleiten sollte. Seit zwei Monaten bereits wich er unter dem einen oder anderen Vorwand einer Weekendeinladung der Gräfin aus. Ausflüchte begannen knapp zu werden, und die Gräfin ärgerte sich sichtlich über sein ständiges Nein. Er wußte, daß der Kontrakt mit der Agentur auf dem Spiel stand. Fünfzehn Prozent Provision an einer halben Million Dollar ergeben einen Bruttogewinn von fünfundsiebzigtausend – das Siebenfache von Daves Gehalt. Und ein einziges kurzes Wochenende konnte das alles verderben.
    Dave zuckte die Achseln und betrat den süß duftenden Aufzug im Erdgeschoß. Er drückte auf den Knopf neben der Ziffer 4 und atmete tief die würzigen Backgerüche ein.
    Er erinnerte sich, wie ihm der Hauptproduktionsleiter Jörgensen erzählt hatte, warum er als junger Mensch das Bäckergewerbe gewählt hatte. Jörgensen war in Dänemark aufgewachsen, und da er aus ärmlichen Verhältnissen stammte, war er jeden Abend in die benachbarte Bäckerei gewandert, um dort für ein paar Kronen eine große Tüte mit altem Backwerk zu kaufen. Der warme, süße Geruch hatte es ihm so angetan, daß er sich gelobte, Bäcker zu werden. Aber nach etlichen vor den großen Öfen verbrachten Jahren merkte er plötzlich, daß seine Nase gegen die wunderbaren Düfte immun geworden war und nichts übrigblieb als die Hitze, die Schufterei und die ungünstige Arbeitszeit. Aus irgendeinem Grund stimmte die Geschichte Dave traurig.
    Als Dave den Aufzug verließ, wußte er, daß die Gräfin sich in ihrem Büro befand. Jörgensen kam nämlich soeben aus der Tür, er sah blaß und mitgenommen aus.
    »Morgen, Dave!« sagte er finster. »Heute hat sie wieder einmal einen schlechten Tag. Hoffentlich haben Sie nicht vergessen, Ihre Beruhigungspille zu schlucken.«
    Dave lächelte. Das war Jörgensens übliche Stichelei, und Dave ließ sie sich stets mit einem Lächeln gefallen, trotz der unbehaglichen Tatsache, daß sie der Wahrheit entsprach. Vor etwa drei Monaten hatte Dave sich mit einigen unruhigen Symptomen, zu denen häufige Magenbeschwerden und Herzflattern zählten, zum Arzt begeben. Eine gründliche Untersuchung hatte keinerlei
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