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Das Grab des Salomon

Das Grab des Salomon

Titel: Das Grab des Salomon
Autoren: Daniel G Keohane
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jüngsten Heimsuchung durch düstere Träume zu tun hatte, deren Einzelheiten sich stets verflüchtigten wie der frühmorgendliche Nebel auf den Friedhöfen. Die einzige Erinnerung, die er beim Erwachen je retten konnte, um sie tagsüber mit sich herumzuschleppen, war ein anhaltendes, schmerzliches Gefühl undefinierbarer Zweifel. Als Vincent jünger gewesen war, hatte er häufig geträumt, doch kurz nachdem er in diesen kleinen Vorort gezogen war, hatte er aufgehört zu träumen. Zumindest hatte er das vermutet . Vielleicht hatte er nur aufgehört, sich an seine Träume zu erinnern. Jedenfalls beunruhigte ihn ihr plötzliches Wiederaufkeimen. Er hatte sich nur deshalb so lange ungestört hier gehalten, weil er seine Instinkte nie ignoriert hatte. An Zufälle glaubte er nicht. Für ihn war Zufall ein Wort, das nur jene verwendeten, die zu dickköpfig waren, um das Wirken Gottes in ihrem Leben zu erkennen.
    Ein unverhoffter Windstoß fegte gegen das Haus. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und protestierte mit aufkommenden Stürmen dagegen. Langsam erhob er sich aus dem Sessel und öffnete die Vordertür. Am klaren Himmel über ihm funkelten Millionen Sterne. Vereinzelte Wolkenfetzen trieben im Wind vorüber, durchschimmernd wie Geister auf der Suche nach ihrem Körper, den sie niemals finden würden. Mit wachsender Besorgnis beobachtete er die Schlieren, halb in der Erwartung, sie würden auf ihn zuhalten und eine herabfassende Klaue bilden ... Vincent ging zurück hinein und schloss die Tür, damit seine Furcht etwaigen Beobachtern verborgen blieb, die über den Friedhof wandern und nach ihm suchen mochten. Nach ihm und dem, was zu beschützen er bei seiner Seele geschworen hatte.
    Außerdem war es an der Zeit, sich zu Bett zu begeben. Jedes Abweichen von der Routine konnte die Aufmerksamkeit derer erregen, die diesen Ort eines Tages vielleicht finden würden – wenn nicht zu seinen Lebzeiten, dann zu jenen des nächsten Hüters, der bislang nur als Warnung seiner Vorgängerin und der Schriften jener existierte, die davor ihre Pflicht getan hatten. Gesichts- und namenlose Gegner suchten seit Jahrhunderten das, was Vincent mit seinem eigenen, kurzen Leben zu behüten gelobt hatte.
    Es stand zu viel auf dem Spiel, um seinen Tagesplan nicht einzuhalten. Er durfte niemals davon abweichen, niemals.
    Johnson hob den Kopf und wackelte fragend mit dem Schwanz. Vincent kraulte ihn zwischen den Ohren, bevor er sich an den Küchentisch setzte. Die verbeulte Metallkassette – etwa aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, wenn er sich nicht irrte – stand offen. Er holte die vier dicken Bände nicht heraus, von denen die meisten älter als die Kassette selbst waren. Stattdessen wandte er sich dem Spiralblock auf dem Tisch zu und las erneut den kurzen Zeitungsartikel durch, den er dieses Jahr aus dem Worcester Telegram ausgeschnitten hatte. Es handelte sich um ein kleines Inserat, über das Vincent normalerweise hinweggelesen hätte, wäre da nicht der Ortsbezug zu Hillcrest gewesen. Er achtete aufmerksam auf alles Neue im Ort – neue Geschäfte, neue Familien. Besonders eingehend betrachtete er in der Regel Fälle, in denen es um eine einzelne Person oder paarweise in die Stadt ziehende Männer oder Frauen ging, allgemein jedoch auf alles, was auf eine Abweichung von der Norm schließen ließ. Die neue Organisation, die sich schlicht als Hillcrest Men‘s Club , kurz HMC bezeichnete, hatte zur Eröffnung in einem unlängst erworbenen Lokal an der einzigen Einkaufsstraße des Ortes geladen. Damals hatte er die Buchstaben des Namens der Gruppe eingehend auf eine Andeutung auf seine Feinde untersucht, auf ein Anagramm oder ähnlichen Unfug. Zwar würden diese Leute, wer immer sie sein mochten und sollten sie je in die Stadt kommen, mit größter Wahrscheinlichkeit wohl kaum mit Pauken und Trompeten auf ihre Existenz hinweisen, dennoch hatte Vincent sich die Ankündigung damals notiert, nur für alle Fälle. In der Ecke des Zeitungsausschnitts stand mit blauem Kugelschreiber in seiner Handschrift die Zahl »798«. Dieselbe Zahl hatte er auf eine Seite des Notizblocks geschrieben, zusammen mit seinen willkürlichen Feststellungen oder Bedenken, die stets mit derselben Anmerkung wie die vorherigen siebenhundertsiebenundneunzig und die wenigen späteren Einträge endeten, gleichsam mit seinem Mantra: »Abwarten und beobachten.«
    Er blätterte vorwärts, bis er auf eine neue Seite stieß, auf die er die Zahl »815«, schrieb, gefolgt
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