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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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Weihnachten geschenkt hat. Es wird Traudel gefallen, wenn ich mit dem Gesicht eines dauerhaft befriedeten Mannes auf dem Sofa liegen und ein bißchen eingeschlafen sein werde. Es ist mir rätselhaft, woher Traudel die Kräfte nimmt, sich nach acht Stunden Arbeit und fast einer Stunde Heimfahrt sofort um Einkauf, Haushalt und Abendbrot zu kümmern. Allerdings hat Traudel einen starken Gestaltungsdrang, dessen Opfer auch ich zuweilen werde. Es irritiert mich bis auf den heutigen Tag, daß Traudel, als wir zusammenzogen, von meiner damaligen Einrichtung so gut wie nichts für unsere gemeinsame Wohnung übernehmen wollte. Sie setzte es durch, daß ich die Sperrmüll-Abfuhr anrief und dann auch noch selbst dabei zusah, wie meine gesamte Einrichtung, mit der ich doch jahrelang gelebt hatte, von zwei Männern auf einen großen Lkw geladen wurde und dann in einer Müllverbrennungsanlage verschwand. Gerade in Augenblicken wie jetzt, wenn ichmich der Möbelvernichtung erinnere, bin ich dankbar für die Erfindung der Blickkette mit dem Kuchenesser und der Obstverkäuferin. Sie ist für mich ein Hinweis, daß es hinter der ersten Wirklichkeit eine zweite und eine dritte gibt, an denen ich teilhabe und die ich, so ich Glück habe, irgendwann zu meinem Beruf machen werde. Davon bin ich leider noch ziemlich weit entfernt. Bis jetzt habe ich es nur zum Beinahe-Künstler gebracht; ich mache Collagen, ich zeichne und male, ich filme, ich schreibe Nonsens-Gedichte, aber nichts davon so richtig , ich meine: leidenschaftlich und also ohne Ausweg, jedenfalls nicht so, daß ich mich (wie jetzt wieder) alle drei bis vier Wochen fragen muß, was wirklich in mir steckt. Ich betrachte eine nicht rechtzeitig gestorbene Wespe, die mit schwerfälligen Flugbewegungen gegen die Wände stößt. Natürlich glaube ich sofort, der Taumelflug der Wespe sei ein vorweggenommenes Bild meiner Zukunft. Welche Art Beruf soll denn dabei hervorgehen, am Spätnachmittag hinter einem geparkten Lieferwagen zu warten, bis ein Kuchenesser wiederkehrt, um dann mit diesem und einer Obstverkäuferin bedeutsame Blicke auszutauschen? Ich hoffe, es ist nur eine Übergangspeinlichkeit, in der ich in diesen Augenblicken ohne Antwort zurückbleibe. Im Radio singt der Bariton Heinrich Schlusnus ein Lied von Brahms. Wunderbar dringt der Name Schlusnus in meine Innenwelt und befreit mich momentweise von allen Bänglichkeiten. Etwa vier Minuten lang, fast so lang wie das Lied dauert, darf ich über den Namen Heinrich Schlusnus herumempfindeln, ohne daß dabei irgend etwas herauskommen müßte. Nach dem Lied meldet sich die Sprecherin, eine ernste Frau mit dunkler Stimme, die tatsächlich Astrid Redlich heißt. Astrid Redlich sagt Heinrich Schlusnus ab! Ich könnte aufjuchzen vor stiller Komik und universalem Lebenseinverständnis. In Wahrheit liege ich da und schaue auf mein leichtzerfetztes Unterhemd. Es gefällt mir, unter meinem tadellosen Oberhemd ein sich in Halbauflösung befindliches Unterhemd zu tragen. Das Unterhemd ist vordergründig ein Symbol für die Marterungen des Lebens, die früher oder später zu gewärtigen sind. Außerdem (und viel mehr) ist das Unterhemd ein Hinweis auf meine Zukunft als Künstler. Ich würde gerne (wenn es so etwas gibt) ein Kleiderkünstler werden, besser: ein Verwesungskünstler. Ich trage gerne Kleidung, die sich mehr oder weniger erkennbar in Selbstauflösung befindet. Durch den Kleiderzerfall ist jedermann (schnell und platt gedacht) von Anfang an mit seiner Selbstauflösung vertraut, er trägt sie auf dem Leib, sie tritt prozeßhaft mit dem Niedergang der Kleidung in sein Leben. Der merkwürdige Eifer, mit dem Menschen ihre schadhaft gewordene Kleidung wegwerfen, ist für mich ein signifikanter Hinweis auf die Leugnung jener Vorgänge, auf die zerfallene Kleidung gerade hinweisen möchte.
    Traudel ist nicht entsetzt (oder sagen wir vorsichtiger: sie zeigt ihr Entsetzen nicht), wenn sie mich in einem halb zerrissenen Unterhemd im Zimmer sitzen oder liegen sieht. Sie sagt zwar immer mal wieder, ich solle doch um Himmels willen diesen oder jenen Fetzen wegwerfen, aber sie besteht nicht ernsthaft auf ihren Vorhaltungen. Sie kauft mir dann und wann neue Unterhemden und neue Unterhosen, die ich auch anziehe. Aber auch neue Unterhemden führen nicht dazu, daß ich die halb aufgelösten Exemplare wegwerfe. Ich ziehe sie immer wieder an und banne meinen Lebensschrecken, indem ich ihn auf dem Leib spüre und anschaue. Wobei ich nicht behaupten
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