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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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jedenfalls eine Weile. Dann fragte ich, was von der Ehe bleibt, wenn beide Partner auf ihre wahnhaften Strategien verzichten.
    Traudel schwieg lange. Jetzt, beim Abendbrot, sagt sie: Es gibt auch viele praktische Gründe, warum eine Ehe sinnvoll ist. Als Beispiel nennt sie: Stell dir vor, dir passiert etwas, ein Unfall irgendwo. Sagen wir, du sitzt in einer S-Bahn, die leider entgleist, du wirst schwer verletzt und landest in irgendeinem Provinzkrankenhaus. Ich erfahre davon erst in den Nachrichten, setze mich sofort ins Auto, weil ich nach dir sehen will. Ich finde heraus, in welchem Krankenhaus du bist, ich fahre los, nach zwei Stunden bin ich an Ort und Stelle, aber dann komme ich nicht rein. Der Pförtner fragt: Sind Sie mit dem Verletzten verwandt? Nein, wieso, sage ich. Dann darf ich Sie nicht zu ihm lassen. Nur Ehefrauen, Ehemänner, Kinder und Eltern dürfen zu den Verletzten, sagt der Pförtner. Jetzt steh’ ich dumm da. Ich darf nicht zu dir, weil ich nicht mit dir verheiratet bin! Weißt du, daß es derartige Vorschriften gibt?
    Nein, sage ich kleinlaut. Natürlich fühle ich mich jetzt (wie soll ich sagen) schachmatt. Gleichzeitig ist mein Widerstand gegen die Ehe noch stärker. Muß man sich verheiraten, weil man nur so die Bürokratie von Krankenhäusern überlisten kann?
    Dummerweise macht mir Traudel gerade jetzt einen albernen Vorwurf. Ich soll meine Hose nicht mehr so häßlich über den Stuhl werfen. Könntest du deine Hose nicht einmal ordentlich auf den Balkon hängen, und zwar mindestens eine Nacht lang, damit sie auch mal richtig auslüftet?
    Gegen meinen Willen verstumme ich, obwohl ich gleichzeitig froh bin, daß das Ehe-Thema erledigt ist, jedenfalls für den Moment. Es beginnt das, was ich eine innere melancholische Verwilderung nenne. Ich werde selbstmitleidig und jammerig, ich hänge meiner alten Überzeugung nach, daß es für mich besser gewesen wäre, in einer Hundehütte auf den Alpen zu leben, aber nein, du mußtest dich an den Rockzipfel einer hübschen aufstrebenden Frau klammern, jetzt kriegst du die Quittung.
    Du mußt dir sowieso mal wieder eine neue Hose kaufen! Und einen neuen Sakko dazu! sagt Traudel. Ich will dich mal wieder in anderen Klamotten sehen!
    Ich bin an Kleidung kaum interessiert, sage ich mit bereits schwächer gewordener Stimme.
    Auch das weiß ich, sagt Traudel, dämpft ihre Stimme jedoch sofort ab, weil auch sie eine Abendverfinsterung vermeiden will. Noch streiten wir uns zärtlich. Zum Zeichen, daß sie zu einem weiteren Themawechsel bereit ist, lobt sie plötzlich den Käse, den sie heute gekauft hat. Und wiederholt leider die Botschaft des Käsehändlers, die auch ich mir schon oft anhören mußte: Der Ziegenkäse ist achtzehn Monate lang in einer Steinhöhle in den Pyrenäen gereift. Am liebsten würde ich aufbrausen, daß ich von den Sprüchen der Käseindustrie verschont bleiben möchte, aber auch ich will die fragile Stimmung nicht verderben. Ich kann trotzdem nicht verhindern, daß ich jetzt stiller und stiller werde, bis ich vollständig in meinem Innenraum angekommen bin. Dort bedauert mich niemand so kenntnisreich wie ich selbst. DieLeisigkeit, mit der ich neben Traudel sitzen bleibe und gleichzeitig verschwinde, wirkt auch auf mich unangenehm. Ich bin in einer Stimmung, in der ich kaum ertrage, daß es abends immer Abend wird und daß die Dunkelheit draußen auch in unsere Wohnung eindringt. Wie sonderbar es ist, daß Traudel die Verkommenheit meiner Hose bemerkt, nicht aber die Verkommenheit der Rosen, die in einer Vase auf dem Wandbord stehen und schon seit Tagen vor sich hindarben. Die Rosen werden erst fahl, dann papieren, dann faltig, schließlich welk. Traudel hält den Vorgang der Einschrumpfung der Rosen für romantisch und schön. Ich dagegen werde, wenn ich die immer mehr ihre Köpfe senkenden Rosen sehe, an Friedhöfe und Gräber erinnert, und daran will ich in der Wohnung nicht erinnert werden. Aber es ist mir nicht erlaubt, die ausgedienten Rosen wegzuwerfen, das ist allein Traudel vorbehalten. Sie möchte immer noch einen Tag länger und dann noch einen Tag länger die Verwelkung anschauen und dabei kitschige oder poetische Stimmungen durchleben. Erst wenn der Kitsch zu stinken anfängt, ist auch Traudel zum Handeln bereit. Bis dahin werden noch mindestens zwei Tage vergehen.
    Das Abendbrot ist beendet, ich trage (auch dies ein Zeichen meiner Kooperationsbereitschaft) die Teller und das Brot und die Gläser in die Küche und spüle
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