Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
so schönen Verhältnisse.
    Durch ein Kind?
    Die Frauen wollen immer noch glücklicher werden, sage ich; weil sie keine Ruhe geben, geht das real vorhandene Glück verloren.
    Das ist die Angst aller Männer, sagt Traudel; die Frau darf sich als Liebesobjekt nicht verändern.
    O Gott, mache ich.
    Stimmt das vielleicht nicht?
    Können wir aufhören mit diesem ... äh ... Gerede? Warum?
    Es führt zu nichts, sage ich.
    Aber es ist wichtig.
    Es tritt Stille zwischen uns ein. Wir ändern unsere Haltungen, das Bettzeug raschelt. In mir pulsiert die angefangene Auseinandersetzung weiter, sogar heftiger als zuvor. Ich bin derartige Gespräche zwischen Traudel und mir nicht gewohnt. Außerdem habe ich tatsächlich Angst. Für mich ist schon der Anfang unseres Gesprächs der heimliche Beginn der Zerstörung, vor der es mir graust. Aber das will ich für mich behalten. Ich habe das Gefühl, daß Traudel meine Angst für unwirklich hält, für etwas, das nicht zählt. Dabei weiß ich, daß auch Traudel recht hat. Ich würde ihr gern sagen, daß ich das weiß, aber mir ist die Stimme weggesackt. Ich weiß, es gibt viele Männer, die ihre Frauen opfern, wenn diese ihren Kindswunsch durchsetzen wollen. Das GeschlechtswesenFrau muß unter allen Umständen unverändert erhalten werden. Ich würde Traudel gerne sagen, daß ich nicht zu diesen harten geschlechtslastigen Männern gehöre. Ich bin hellwach, Traudel vermutlich ebenfalls. Ich würde mich jetzt gerne zerstreuen, aber es gilt zwischen uns als unfein, nach einem Beischlaf den Fernsehapparat einzuschalten. Aber ich kann hier auch nicht im Dunkeln liegen bleiben. Einsamkeit ist normal; nur ihr plötzliches Eintreten ist so widerlich.
    Ich warte noch ein paar Minuten, dann verlasse ich das Bett und gehe in die Küche. In den Schubladen des Küchenschranks suche ich nach einem kleinen Gegenstand, mit dem ich spielen könnte. Draußen, vor dem Fenster, stürmt es ein wenig. Ich schätze es nicht, nachts so überwach zu sein wie jetzt. Ich schaue in den kleinen Spiegel am Küchenschrank und denke: Dein Gesicht ist eine einzige Ausschreitung. Auch dieser Gedanke – sofern es sich überhaupt um einen Gedanken handelt – ist mir wohlvertraut. Schon wieder habe ich das scheußliche Gefühl, vom Leben zu wenig zu begreifen. Um besser denken zu können, werde ich mir eine Tasse Kaffee machen. Ich fülle zwei Becher Wasser in die Kaffeemaschine, löffle Kaffeepulver in das Filterfach und knipse die Maschine an. Plötzlich, zum ersten Mal, erinnert mich das Röcheln der Kaffeemaschine an das Röcheln meiner sterbenden Mutter. Ich bin augenblicklich völlig wehrlos und kämpfe schon nach fünf Sekunden gegen den Andrang der Tränen. Ich stelle die Kaffeemaschine ab und starre auf das stumm versiegende Tröpfeln des Wassers. Es fällt mir auf, daß ich (ich weiß nicht warum) in den letzten Jahren leichter zur Tränenbildung neige als früher. Die Anlässe liegen meist viele Jahre zurück und sind eigentlich ausgetränt (abgetränt), aber in neuerer Zeit kehren sie mit starkem inneren Druck zurück und fordern auch noch neue Tränen. Zur Nachtblödheit gehört, daß man das Oftgedachte noch einmaldenkt. Auf der Straße ziehen proletarische Jugendliche in hellen Straßenanzügen umher und setzen sich ihre Sonnenbrillen auf, ehe sie ein Lokal betreten. Der Kleiderkitsch der jungen Leute ist interessant, weil er das Fälschungsverlangen des Lebens zeigt. Es ärgert mich ein bißchen, daß ich sogar zu dieser Stunde so gescheit daherdenke. In Wahrheit will ich nicht mehr klug sein; es ist alles lächerlich, besonders nachts. Dann finde ich eine Beschäftigung, die mich endlich ablenkt. In einer Schublade entdecke ich einen Brief mit nicht abgestempelter Briefmarke. Der Brief stammt von meiner Schwester; er wartet schon seit mindestens drei Monaten auf Antwort. Meine Schwester ist mit einem Bauingenieur verheiratet und hat zwei Kinder. Aus dem Urlaub schreibt sie Urlaubsbriefe, zu Weihnachten schreibt sie Weihnachtsbriefe und zu Geburtstagen Geburtstagsbriefe. Ich schneide das obere rechte Viereck mit der nicht abgestempelten Briefmarke aus dem Umschlag heraus, fülle ein Tellerchen mit Wasser, lege die ausgeschnittene Briefmarke in das Wasser und warte, bis sich die Briefmarke zu lösen beginnt. Das ist eine richtige Nachtbeschäftigung. Ich überlege sogar, an meine Schwester einen Brief zu schreiben und ihn dann mit der sich lösenden Briefmarke zu frankieren. Das würde meiner Schwester
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher