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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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sich bedanken wollte. Vor lauter Schluchzen konnte sie nicht sprechen. Nach einer Weile kamen auch mir die Tränen! Dabei kannte ich weder die Schauspielerin noch den Film, in dem sie mitgespielt hatte. Hollywood ist mir total wurscht! ruft Dr. Adrian aus.
    Am Ende der Hauptstraße, auf der linken Seite, liegt der mit roten und blauen Lichtsäulen eingerahmte Eingang einer Peep-Show. Dr. Adrian meint scherzhaft, wir sollten uns, bevor unsere Obdachlosennacht beginnt, noch ein paar schöne Anblicke gönnen. Ich bin unentschieden, weigere mich aber nicht, das heißt ich passe mich an wie so oft und ärgere mich darüber lautlos. Wir betreten einen großen Raum, in dessen Mitte eine Art Panorama-Kuppel aufgebaut ist. Rund um die Außenwand befinden sich Kabinentüren, eine neben der anderen. Die Türen der meisten Kabinen stehen offen, offenbar ist der Anblick nackter Frauen nicht mehr der letzte Schrei. Um Geld zu sparen, zwängen wir uns zu zweit in eine der schon für einen Benutzer engen Kabinen. An der vorderen Wand befindet sich ein Guckloch, das sich nach jeweils einer Minute selbständig schließt. Dr. Adrian beugt sich zuerst nach vorne, er schaut und schweigt etwa eine halbe Minute, dann darf ich. Ich sehe eine blonde, nicht mehr junge Frau, die sich auf einer Drehscheibe räkelt. Ihre Brust ist unverhüllt, unten trägt sie einen Tanga, der von ihrem Geschlecht viel preisgibt, weil die Frau während ihres Auftritts die Beine geöffnet hält. Ich werfe einen weiteren Euro in den Automaten. Dr. Adrian schaut nur kurz, er will mir den Vorblicklassen. Ich sehe eine kleine, fast weißhäutige Asiatin, vermutlich eine Japanerin. Ihr Gesicht ist ernst, reglos und traurig. Sie ist vollständig nackt, was sonderbar wirkungslos bleibt, weil alles an ihr klein ist, auch ihre Geschlechtsteile. Ich betrachte den nicht mehr frischen Lack auf ihren Fußnägeln, in dessen Abgesplittertheit sich die Trauer der Frau zeigt. In diesen Sekunden merke ich, wie sich die Hand von Dr. Adrian von außen auf meinen Hosenladen legt. Sofort ist klar, warum Dr. Adrian mit mir in eine Kabine wollte. Ich beuge den Oberkörper nach oben, schiebe seine Hand beiseite und sage knapp: Das nicht. Und verlasse die Kabine. Dr. Adrian bleibt zurück, was mich erleichtert. Es ist das erste Mal, daß ein erwachsener Mann homosexuelle Kontakte zu mir sucht. Nur als Schüler, etwa mit dreizehn, hatte ich eine kurze gleichgeschlechtliche Phase, die sich nicht vermeiden ließ, weil Gruppenonanie in dieser Zeit eine Art Jugendbewegung war. Ich sehne mich ein bißchen nach der kleinen Japanerin in der Peep-Show. Wahrscheinlich ähnelt ihre Trauer entfernt der meinen. Ich stehe herum und weiß nicht, was ich machen soll. Du könntest Traudel anrufen, denke ich, komme aber wieder davon ab. Es ist wie so oft: Es ereignet sich nichts, und jetzt bin ich auch noch froh drum. Unentschlossen gehe ich zurück in Richtung Klinik. Es ist Spätnachmittag, die Stadt belebt sich ein wenig. Schon jetzt ekle ich mich vor dem Abendbrot in der Klinik. Immer dieser Jugendherbergstee und zu oft die scheußliche Gelbwurst! Dieser Tage bin ich mit einem Buch zu Tisch gegangen. Ich las nur, um die Scham beim Essen zu mildern. Und gleich auch die nachfolgende Scham, daß ich nur selten weiß, warum ich mich schäme. Aber deswegen bin ich ja wahrscheinlich hier. Ich habe keine Lust mehr, an dieser immer noch zunehmenden Kompliziertheit teilzunehmen. Das Leben wird derart unaufklärbar, daß ich immer öfter Generalverzicht übenmöchte. Aber dann verzichte ich auch auf den Generalverzicht und rutsche in das mir vertraute Gefühl der Kläglichkeit hinein, von dem ich auch nichts mehr wissen will. Dabei habe ich schon länger den Eindruck, daß die Kompliziertheit, obwohl ich ihr Austragungsort bin, gar nicht von mir stammt. Ich muß sie von einem Unbekannten übernommen haben. Es handelt sich um eine Fremdkompliziertheit, wenn es so etwas gibt. Das soeben in die Welt getretene Wort Fremdkompliziertheit hebt plötzlich meine Laune. Eine Art Stolz über meine erfinderische Worttätigkeit durchflutet mich. (Dieser überraschende Wechsel der Stimmungen ist ein wichtiger Teil der Fremdkompliziertheit.) Ich gehe am Schaufenster einer Bäckerei vorüber und sehe darin ein großes rotes Marzipanauto mit weißen Marzipanrädern. Am Steuer sitzt ein brauner Marzipanhase mit nach hinten wegfliegenden Marzipanohren. Ich überlege eine halbe Minute, ob ich mir einen Marzipanhasen kaufen soll, da
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