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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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viermal erklären, bis ich sie wenigstens verinnerlicht, wenn auch noch immer nicht vollständig verstanden habe. Aus Gesprächen mit Dr. Adrian ist mir (zum Beispiel) inzwischen bekannt, daß die Bundesversicherungsanstalt (dieses Wort!) von Zeit zu Zeit nachprüft, ob der einmal zuerkannte Status der Arbeitsunfähigkeit immer noch gegeben ist. Ich hatte bis dahin angenommen, daß die Arbeitsunfähigkeit, ist sie einmal erreicht, für immer gültig ist. Dem ist nicht so. In regelmäßigen Abständen will die Bundesversicherungsanstalt von Fachärzten darüber informiert werden, ob die Arbeitsunfähigkeitanhält oder ob der eine oder andere Frührentner nicht doch wieder arbeitsfähig ist. Diese Information hat meine Pläne zunächst ins Wanken gebracht. Aber dann hat mich Dr. Adrian beruhigt. Die Nachprüfung läuft weitgehend formalisiert ab; man geht nur zu seinem Gutachter, holt sich einen Stempel ab und schickt die Bestätigung zurück an die Anstalt.
    Die Klinik liegt auf einer niedrigen Anhöhe am Rand der Stadt. Man braucht, um in die innere Stadt zu gelangen, etwa fünfzehn Gehminuten, die wir in Kürze hinter uns haben. Ich habe keine Ahnung, welche Richtung Dr. Adrian dann einschlagen wird. Im Vorübergehen betrachte ich Obdachlose, die bis in den Klinikbereich vorgedrungen sind. In den Augen der Obdachlosen sind die Patienten begüterte Menschen. Deswegen ist es für sie aussichtsreich, die Abfallkörbe der Umgebung zu untersuchen. Sie wühlen mit bloßen Händen in den Körben herum und beachten die anderen Menschen nicht. Es sind nicht mehr alle obdachlos Scheinenden wirklich obdachlos. Die neue Armut ist inzwischen auch zu vielen in noch ordentlichen Verhältnissen lebenden Menschen vorgestoßen. Diese müssen von Zeit zu Zeit losziehen und sich nach brauchbaren Fundstücken umschauen. Und es gibt (das weiß ich, seit ich in der Klinik bin) Menschen mit krankhaften Suchzwängen, die an keinem Behälter vorübergehen können, ohne im Detail nachgeprüft zu haben, was sich darin befindet, auch wenn sie nichts davon wirklich mitnehmen wollen. Ich versuche, Dr. Adrian so unauffällig wie möglich auf das Thema Frühverrentung hinzulenken. Wie nebenbei sage ich: Mein Plan ist, so lange wie möglich in der Klinik zu bleiben. Aber Dr. Adrian springt nicht an. Rastlos beobachte ich, was andere Menschen um mich herum tun und was ich nicht tue. Es beruhigt mich, Details zu entdecken, die zwischen mir und den anderen liegen. Inder Wahrnehmung dieser Differenz lebt mein Ich. Ich weiß nicht, warum mir jetzt ein Bild aus dem vorigen Winter einfällt. An einem Sonntagmorgen schneite es stark. Durch den fallenden Schnee hindurch sah ich von unserem Wohnzimmer aus in einem Fenster gegenüber eine Frau in weißer Unterwäsche. Plötzlich, durch den Anblick des weißen Schnees, der weißen Unterwäsche und der weißen Haut der Frau, war ich von jeglichem Denken befreit. Es beginnt zu tröpfeln, was Dr. Adrian nicht zu stören scheint. Wir durchqueren die Stadt und verhöhnen die kleinen spießigen Läden. Die Verachtung für das Glück der Kleinstadtbewohner bringt eine brauchbare Stimmung zwischen uns hervor. Eine Weile findet nichts statt außer Regen und Schritte und Schweigen. Ich frage mich, ob ich mich von Dr. Adrian schon jetzt verabschieden soll.
    Stört Sie das Wetter? fragt Dr. Adrian.
    Bis jetzt nicht allzu sehr, antworte ich.
    Haben Sie besondere Empfindungen?
    Ich habe im Augenblick keine Empfindungen, sage ich.
    Das macht der schöne Regen.
    Ich lache ungläubig.
    Ich bin schon als Kind gerne im Regen umhergelaufen, sagt Dr. Adrian; die Tropfen auf der Haut waren eine gute Botschaft, wenn ich wegen irgend etwas niedergeschlagen war.
    Aha, denke ich, da ist sie schon, die Melancholie. Deutlicher werden wir nicht. Ich weiß nicht, auch nicht per Gerücht, wovon Dr. Adrian gesundheitlich beeinträchtigt ist, und ich werde ihn nicht fragen. Es ist gleichgültig, ob wir unser Problem eine unipolare Depression, eine mittelschwere Melancholie, eine bipolare Störung, ein autistisches Syndrom, eine akute Angstneurose oder sonstwie nennen. Dr. Adrian nimmt Remergil, Serotonin, Noradrenalin und, wieich, Cipralex. Er klagt über Hemmungen, Antriebsschwäche und Weinerlichkeit.
    Weinerlichkeit, frage ich, wobei?
    Ganz verschieden, sagt Dr. Adrian. Neulich lag ich im Bett und hörte im Radio einen Bericht über eine Oscar-Verleihung in Hollywood. Eine Schauspielerin mußte weinen, als sie den Preis entgegennahm und
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