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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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hätte.
    An dieser Stelle sagte Dr. Treukirch: Zwischen der erfundenen Diskriminierung und der Brotscheibengeschichte besteht eine gewisse Ähnlichkeit.
    Aber die Sache mit der Brotscheibe ist nicht erfunden, sage ich.
    Das meine ich auch nicht, sagt Dr. Treukirch; sondern ich meine, daß es sich bei beiden Vorgängen um Aussetzungen handelt, um Selbstaussetzungen sozusagen, verstehen Sie?
    Ich schweige und überlege, obwohl ich nicht weiß, was ich überlegen soll. Deswegen schaue ich meiner Hand dabei zu, wie sie sich in den Schacht zwischen Sitzfläche und der Seitenpolsterung meines Sessels einschiebt.
    Wichtig ist nicht die Ähnlichkeit, sagt Dr. Treukirch; wichtig ist auch nicht, ob es sich wirklich um Selbstaussetzungen handelt, vergessen Sie bitte das Wort. Wichtig ist, was wir noch nicht wissen; wichtig ist, was die beiden Handlungen bedeuten, was Sie mit ihnen eigentlich sagen wollen.
    Ich schweige, ziehe meine Hand aus dem Polsterschacht des Sessels und betrachte die Rötungen, die durch das Eingeklemmtsein der Hand entstanden sind. Ich weiß nicht, ob ich zugeben darf, daß ich Dr. Treukirch verstanden habe. Gleichzeitig will ich das Gefühl einer Entblößung zurückweisen; es ist, als hätte ich mein Geheimnis verloren.
    Dann sagt Dr. Treukirch: Aber wir müssen an diesem Punkt nicht sofort weiterkommen; wir können beim nächsten Mal versuchen, hier anzuknüpfen.
    Dr. Treukirch erhebt sich und gibt mir die Hand. Die Stunde ist zu Ende, ich verlasse das Zimmer des Therapeuten. Es überschwemmt mich der Eindruck, in den Augenblicken meiner größten Ratlosigkeit restlos durchschaut worden zu sein. Deswegen rutsche ich jetzt in eine Art inneren Vandalismus hinein, der mir seit meiner Kindheit vertraut ist. Ich möchte jetzt etwas stehlen, etwas zerstören oder jemanden beschimpfen. Ich gehe zurück in das Foyer, setze mich in einen Sessel und warte ab, bis sich meine Gefühle von selbst gegen andere eintauschen. Im Grunde war schon der innereVandalismus meiner Kindheit eine Selbstaussetzung. Als ich neun Jahre alt war, habe ich fast den Verstand verloren, weil ich zu lange von mir selbst getrennt war. Damals lief ich völlig verstummt und verlassen ganze Nachmittage in der Stadt umher, um den Abstand zwischen mir und mir zu verkleinern. Frau Gschill, eine Autistin, geht vorüber und erinnert mich daran, daß heute abend ein Rockkonzert stattfindet. Etwas Peinlicheres als ein Rockkonzert in der Provinz kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen. Eine ältere Besucherin betritt den Empfangsraum. Sie führt einen kleinen Hund an der Leine. Nach ein paar Metern fällt der Frau die Leine aus der Hand. Der Hund läuft, die Leine neben sich herziehend, im Foyer umher. Danach kehrt der Hund freiwillig zu der Frau zurück. Fast alle Patienten schauen dem kleinen Schauspiel dankbar zu. Die Frau bückt sich und nimmt die Leine wieder in die Hand.
    Gegen 20.00 Uhr sammelt sich im Foyer eine Gruppe von zuerst sechs, dann acht Patienten, um das Rockkonzert einer mir unbekannten Rockband namens THE TAIFUNS zu besuchen. Von den Patienten sind mir fünf unbekannt, drei kenne ich oberflächlich vom Mittagessen und von Spaziergängen. Das Konzert findet außerhalb in der Sporthalle der Gemeinde statt. Schon auf dem Weg dorthin komme ich mir unpassend vor. Ich schäme mich wegen meines fortgeschrittenen Alters. Dr. Adrian, einem ebenfalls älteren Patienten, scheint es ähnlich zu gehen. Wir schließen uns locker zusammen und bilden gemeinsam eine kleine Verhöhnergruppe. Die Patientenband LAST EXIT macht einen Abendausflug, sagt Dr. Adrian und lacht spöttisch. Was immer wir tun, sagt Dr. Adrian, es findet immer dasselbe statt, die Verwandlung von normalem Leben in formalisiertes Leben. Wir gehen an einem Musikaliengeschäft vorbei, in dessen Schaufenster stark verbilligte Gitarren ausgestellt sind. Dr. Adrian und icherzählen einander, daß wir in unserer Jugend Gitarristen hatten werden wollen, was zwischen uns eine gewisse Gemeinschaftlichkeit hervorbringt. Ich betrachte einen älteren Bauern, der einen Feldweg entlanggeht. Der Mann trägt ein rundes Brot unterm linken Arm. Es gefällt mir die Art, wie sich der Bauer das Brot eng an den Körper drückt, so daß Brotlaib und Menschenleib plötzlich zusammengehörig erscheinen. Ich will Dr. Adrian auf den Mann aufmerksam machen, aber dann sagt Dr. Adrian: Die abendländische Rationalität ist noch lange nicht auf dem Höhepunkt ihrer Melancholie angekommen. Ich stimme zu,
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