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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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andere) Tabletten täglich werde einnehmen müssen, darf ich meinen gegenwärtigen Zustand auch für meinen zukünftigen halten. Dieser Tage las ich auf dem Schaufenster eines Friseurs den Spruch: Was Friseure können, können nur Friseure. Einige Minuten lang hielt ich den Satz für eine tiefe Wahrheit. Ich versank in Nachdenken darüber, worin die Wahrheit des Spruchs besteht, und ich bewunderte wie schon lange nicht mehr die Fähigkeit der Sprache, eine Wahrheit zu zeigen und sie gleichzeitig zu verbergen. Kurz darauf verließ ein älterer Mann mit zwei Krücken den Friseursalon. Es dauerte, bis er umständlich die drei Stufen vor der Tür des Friseursalons herabgestiegen war und die beiden Krücken in seine Bewegungen integriert hatte. Plötzlich dachte ich: Nur ein Mann mit zwei Krücken geht wie ein Mann mit zwei Krücken. Ich kicherte und hatte das schöne Gefühl, über die prachtvolle Angeberei der Sprache triumphiert zu haben. Erst jetzt bestaunte ich das Täuschungsgehabe des Satzes auf der Schaufensterscheibe. Das Gehabe funktioniert nur, weil der Satz die riesige Menge unseres Nichtkönnens elegant unter den Tisch fallen läßt. Genau so mußt du in Zukunft leben, dachte ich. Aber habe ich nicht schon immer so gelebt?Ich kicherte nochmal. Weil ich nicht wollte, daß der Mann mit den zwei Krücken mein Lachen auf sich bezog, entfernte ich mich rasch. Im Weggehen empfand ich Schmerz darüber, weil ich über all das, was ich soeben gesehen, gedacht und empfunden hatte, mit niemandem würde sprechen können. Insofern verlangte es mich nach Traudel. Aber ich hatte plötzlich auch Sehnsucht nach meinen toten Eltern, was mich verwunderte. Meine Eltern sind schon seit vielen Jahren tot, und es ist schon sehr lange her, daß ich sie so heftig zurückverlangte wie in diesen Minuten.
    Ich sah meinen Vater vor mir, wie er sich, müde von der Arbeit, schon früh am Abend ins Schlafzimmer zurückzog. Viele erwachsene Männer trugen damals keine Schlafanzüge, sondern Nachthemden. In einem weißen, fast bis auf den Boden reichenden Nachthemd erschien Vater in der Küche. Wir, die Kinder, waren dem Lachen nahe. Auch Mutter, die mit uns in der Küche saß, fand den Anblick des Vaters peinlich beziehungsweise komisch beziehungsweise tragikomisch. Sie grinste uns versteckt an, was einerseits Solidarität mit uns ausdrückte, aber gleichzeitig die Anordnung enthielt, das Lachen auf alle Fälle zurückzuhalten. Genauso geschah es. Wir betrachteten das langsame Umherschlurfen des Vaters, besonders die Art, wie er nach dem Wecker griff und ihn langsam aufzog, bis die Feder im Wecker zu ächzen begann und das Aufziehen schwerer wurde. Danach drückte sich Vater den Wecker gegen die Brust, sagte Gute Nacht allerseits und verschwand. Einige Minuten lang saßen wir erstarrt in der Küche und hielten uns den Mund zu. Erst nach drei oder vier Minuten, als es ganz still geworden war, schaltete Mutter das Radio ein. Wir drückten uns Kissen gegen das Gesicht und lachten so leise wie möglich in diese hinein. Überwältigt von der Erinnerung legte ich eine Gedenkminute für den toten Vater ein. Es überraschte mich,wie heftig mich die unverdiente Verhöhnung des Vaters heute schmerzte. Ich setzte mich auf eine Bank, sah in die Gegend und verwand oder verwand nicht, daß von einer lächerlichen Kindheitsszene eine so starke Erschütterung ausging.
    Am späteren Nachmittag (in der Klinik wird es langsam still) treffe ich mich mit Dr. Adrian. Er hat eine Schaumstoffunterlage, eine Wolldecke, ein Proviantpaket, ein Eßgeschirr und andere Kleinigkeiten zu einem Bündel zusammengeschnürt. Dr. Adrian wird die kommende Nacht als Obdachloser verbringen. Es ist für ihn nicht die erste Nacht dieser Art. Die Erlaubnis seines Therapeuten bedeutet, daß die Unternehmung als hilfreich gilt. Auch mir hat Dr. Treukirch die Teilnahme erlaubt. Wozu ich sagen will, daß eine Nacht als Obdachloser für mich keine therapeutische Erschließungskraft hat. Eher im Gegenteil; eine solche Nacht würde meine Zukunftspanik nur verstärken. Deswegen werde ich nur die erste Hälfte der Nacht mit Dr. Adrian herumziehen. Dann werde ich mich verabschieden und in die Klinik zurückkehren. Mein Motiv ist nach wie vor, daß ich von Dr. Adrian mehr über die Probleme der Frühverrentung erfahren will. Ich bin in derlei bürokratisch-verwaltungsmäßigen Vorgängen unerfahren und vermutlich auch ungeschickt. Man muß mir die einfachsten Verwaltungsschritte drei- bis
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