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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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obwohl ich nicht genau weiß, wovon Dr. Adrian spricht. Auch unter den anderen Patienten sind leise Unterhaltungen entstanden. Ich frage mich, warum ich an einen Bildungsangeber geraten bin. Ich möchte mich von ihm lösen, aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Zwischendurch will ich zu Dr. Adrian immer wieder sagen: Suchen Sie sich einen anderen, ich bin zu alt für Ihre kleinstädtische Wichtigtuerei. Die Wahrheit ist: Ich bin selbst ein Bildungsangeber. Nur deswegen fallen mir andere Bildungsangeber sofort auf. Wir betreten einen großen Saal, der ringsum mit schwarzen Stoffgardinen ausgeschlagen ist; wahrscheinlich, damit man die Sport- und Klettergeräte an den Wänden nicht sieht. Die Halle ist nicht einmal zur Hälfte gefüllt, was mir angenehm ist. An einer Theke gibt es Bier, Wein, Wasser und Apfelsaft. Auf den Eintrittskarten ist »freie Platzwahl« angekündigt. Das bedeutet, daß jeder mit einer Flasche oder einem Glas in der Hand irgendwo herumstehen darf. Vorne, erhöht auf einer Bühne, stehen die TAIFUNS. Zwei dicke Frauen spielen Gitarre (die eine singt dazu), drei magere Frauen spielen Schlagzeug, Baß und Saxophon. Schon nach kurzer Zeit breitet sich der Geruch nach Bier und Schweiß aus. Der Abend hat offenbar keine Struktur, denkt der Bildungsangeber in mir. Zum Glückkann ich den Satz für mich behalten. Meine Bildungsverschwiegenheit ist mein einziger Vorteil gegenüber den konventionellen Angebern. Die meisten Besucher trinken, nur wenige tanzen. Ich bin froh, daß Dr. Adrian von mir gewichen ist. Wenn ich es recht sehe, tanzt er mit Frau Nowak, einer Borderlinerin. Von Zeit zu Zeit dreht sich die Sängerin der TAIFUNS um und schaut sich die hintere Bühnenwand an. Ich betrachte ihren Rücken, und dabei fällt mir meine Mutter ein, wenn sie sich, als ich Kind war, von mir abgewandt hatte und den Raum verließ. Die Sängerin dreht sich wieder um und zeigt ihr verdrossenes Gesicht, ebenfalls wie meine Mutter. Ich stelle mir vor, meine Mutter wäre Gitarrespielerin und Sängerin geworden und hätte abends das Haus verlassen, um ihre Auftritte zu absolvieren. Ich male mir aus, ich wäre ihr gefolgt und hätte gesehen, daß sie als Frontfrau einer Popgruppe eine faszinierende Frau gewesen wäre. Wie komme ich nur dazu, mir derartig übertriebene Hoffnungen zu machen! Denn ich hätte natürlich entdecken müssen, daß sie auch als Gitarrespielerin und Sängerin genau das gleiche öde Huhn gewesen wäre wie zu Hause auch. Ich wäre fassungslos gewesen und wäre auf dem Heimweg in ein Weinen ausgebrochen.
    Rock me, singt die Sängerin, aber man glaubt ihr nicht, daß sie gerockt werden will. Sie bewegt sich mäßig in den roten, gelben und blauen Spotlights und zeigt dabei ihre Hüften, ihre Haut und ihren Ledergürtel. Ich tanze mit Frau Gschill, der Autistin, worauf ich mich besser nicht eingelassen hätte. Sie versucht schon nach kurzer Zeit, mich zu küssen. Ich komme mir eher geleckt als geküßt vor, was Frau Gschill nicht zu stören scheint. Ich bin natürlich, wie fast immer, selbst schuld. Ich hatte mir mit Frau Gschill ein kleines Abenteuer ausgedacht. Ich habe schon lange keinen Intimbesuch mehr gehabt. Es gibt eine Kliniksexualität, wie eseine Urlaubssexualität und eine Fasnachtssexualität gibt; sie entsteht nur durch die vorübergehende Alltagsferne der Menschen. Aber Frau Gschill hat offenkundig kein Empfinden dafür, daß unsere Annäherung total mißlingt. Schlagartig begreife ich, was Autismus ist. Frau Gschill lebt ganz und gar auf sich selbst bezogen. Sie bemerkt kaum, daß es ein anderer Mensch ist, mit dem sie tanzt, und es ist ihr gleich, daß dieser andere Mensch (ich) ihren Nikotinschlund nicht ertragen kann. Ich glotze Frau Gschill an, wie man jeden anglotzt, dessen Erkrankung plötzlich klar wird. Ich behaupte, daß ich dringend aufs Klo muß, was Frau Gschill ebenfalls nicht irritiert. Immerhin gelingt mir auf diese Weise die Flucht. Wenig später stehe ich wieder neben Dr. Adrian, der vom Plan seiner Frühverrentung spricht. Das Allerwichtigste ist, sagt er, man muß zwei Ärzte finden, die bescheinigen, daß man arbeitsunfähig geworden ist. Mit glücklichem Gesicht betont Dr. Adrian, daß er zwei solche Ärzte gefunden hat. Anfangs kommt mir das Thema Frühverrentung so belanglos vor, daß ich das Rockkonzert verlassen möchte. Aber dann beginne ich mich zu fragen, ob Frühverrentung nicht auch für mich eine Möglichkeit ist. So gesehen könnte der
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