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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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Aufenthalt in der Klinik meinem Leben eine entscheidende Wende geben. Dr. Treukirch wird sicher bereit sein, mir eine der erwünschten Bescheinigungen auszustellen. Neugierig lausche ich den Details von Dr. Adrians Plan.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
ELF
    Auch in den folgenden Tagen suche ich die Nähe von Dr. Adrian. Er ist Anfang Fünfzig, gutaussehend, schlank, intelligent, angenehm im Umgang, von Beruf Meteorologe in einer norddeutschen Wetterstation. Warum er in der Klinik ist, sagt er nicht und ich frage nicht danach. Auch ich rede nicht darüber, warum ich hier bin, einmal abgesehen davon, daß ich Schwierigkeiten hätte, meine Störung korrekt zu beschreiben. Eines meiner leichteren Probleme ist, daß ich mich nicht wirklich für meine Krankheit interessiere. Daß ich überhaupt als krank gelte, beleidigt mich so sehr, daß ich mein Desinteresse für plausibel halte. Ich versuche, meine Neugier auf die Frühverrentung nicht offen zur Schau zu stellen; ich warte ab, bis Dr. Adrian freiwillig davon spricht, was er gern tut. Er stellt die Frühverrentung als einen großen Erfolg seines Lebens dar. Gelegentlich schildert er die bedrückenden Arbeitsverhältnisse in seiner Wetterstation (Mobbing, keine Aufstiegsmöglichkeiten, Kränkungen durch den Chef). Er wohnt mit Frau und zwei schulpflichtigen Kindern in einem kleinen Dorf in Friesland. Ich will, habe ich neulich zu Dr. Adrian gesagt, ein zarteres Leben als das, was ich bisher hatte, und ich glaube, daß die meisten Menschen das ebenfalls wollen, aber nicht wissen, wo sie nach einem zarteren Leben suchen sollen. Ebendiese Suche ist das Thema der Schule der Besänftigung. Dr. Adrian war, glaube ich, von dieser Auskunft beeindruckt, obgleich ich auch merkte, daß er nicht genauer informiert werden wollte. Miteintägiger Verspätung erschrak ich darüber, daß ich noch einmal (und wieder) von der Schule der Besänftigung gesprochen habe. Deswegen nehme ich meine Tabletten in diesen Tagen besonders regelmäßig. Ich habe Angst vor einer neuen Verwirrung. Gestern abend, allein im Bett, hatte ich das Gefühl, das Wiederauftauchen der Schule der Besänftigung sei das Ankündigungszeichen eines neuen Schubs. Dann aber verlor sich die Schule in meinen Phantasien. Ich wage nicht das Geständnis, daß mich vor allem formale Fragen der Frühverrentung interessieren. Ich müßte Dr. Treukirch direkt fragen können, ob ich noch einmal werde normal arbeiten können. Auch Dr. Adrian ist mit seinem Therapeuten zufrieden. Er fühlt sich von ihm gut verstanden und liberal behandelt. Er hat von ihm die Erlaubnis für eine nächtliche Wanderung bekommen, die er nächster Tage antreten wird. Natürlich hat die Wanderung einen therapeutischen Hintergrund. Dr. Adrian möchte mit einer Nacht im Freien seine Lebensangst sowohl bearbeiten als auch ausdrücken, besonders seine Angst vor Lebensverfehlung und Lebensverpfuschung. Auch ich fühle mich in der Klinik inzwischen sicher und beruhigt. Seit Tagen liebäugle ich mit der Vorstellung, so lange wie möglich hierzubleiben. Die anfängliche Kränkung, daß mir ein Klinikaufenthalt niemals hätte »zustoßen« dürfen, löst sich mehr und mehr auf. Ich kann das Verschwinden dieses Gefühls weder erklären noch darstellen, schon gar nicht gegenüber Traudel. Ich habe einen herzergreifenden Brief von ihr erhalten. Noch einmal bereut sie, daß sie mich hierhergebracht hat, und bittet um Verzeihung. Sie spürt, schreibt sie, daß mir die Verzeihung schwerfällt, und sie weiß nicht, wie sie mich seelisch umstimmen soll. Sie versichert mich ihrer tiefen Liebe und fragt, wann sie mich wieder besuchen darf. Der Brief rührt mich, aber ich weiß nicht, was ich antworten soll. Daß ich vorerstnicht von hier weg möchte, darf ich Traudel nicht mitteilen; den Plan der Frühverrentung ebenfalls nicht. Traudels Moralismus könnte eine solche Strategie der Lebenserleichterung niemals gutheißen. Ich darf sagen, daß mir eine solche Ruhe, wie ich sie hier gefunden habe, nie zuvor zuteil geworden ist. So ohne Furcht- und Angstbilder, fast auch ohne Gedächtnis, wie ich zur Zeit meine Tage durchlebe, ähnle ich einem Insekt, das jeden Tag ohne Anstrengung seine Nahrung und am Abend seinen Schlafplatz findet. Gut, die Ausgeglichenheit ist künstlich, sie geht auf die Tabletten zurück, die ich jeden Tag schlucke. Zur Zeit nehme ich Fluoxetin, Zoloft, Mirtapazin, Cipralex und Modafinil. Da ich diese (oder
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