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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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umarmt und an sich drückt. Es ist, als wäre ich das Kind, vor dem ich Angst habe. Ich bin froh, daß es dunkel ist und niemand meine Gedanken lesen kann. Unsere Verhütungspraxis verdient diesen Namen eigentlich nicht mehr. Mal gibt mir Traudel einen Hinweis, daß ich aufpassen muß, mal auch wieder nicht. Mal nehme ich ein Kondom, mal machen wir Interruptus, dann machen wir wieder nichts – und reden nicht mal drüber. Noch während des Aktes denke ich an meine toten Eltern. Als ich ein Kind war, sagte meine Mutter oft zu meinem Vater: Es ist das Natürlichste auf der Welt, daß eine Frau Kinder will. Dagegen konnte mein Vater nichts einwenden. Dann sagte Mutter: Es ist ganz natürlich, daß die Frau ihre Kinder von einem ganz bestimmten Mann will. Auch dagegen konnte Vater nichts sagen. Eines Tages hatten sie drei Kinder, ich war das älteste und gewann langsam den Eindruck, daß Vaters Schweigen eine Stellungnahme gegen alle drei Kinder war. Ich finde es nicht ganz in Ordnung, daß mir diese Gedanken und Erinnerungen erst während des Beischlafs kommen. Ich müßte einmal den Mut finden, mit Traudel Klarheit darüber herzustellen, was wir eigentlich wollen und nicht wollen. Tatsächlich aber benehme ich mich wie mein Vater. Ich stelle mir die dringlichen Fragen erst dann, wenn es für dringliche Fragen aller Art zu spät ist. Mein Same löst sich, und ich denke: Ich möchte so leben, daß durch das Leben keine Geheimnisse mehr entstehen. Das ist sicher ein wunderbarer Gedanke für ein neues Geheimnis. Traudel hat keinen Mucks von sich gegeben, obsie empfängnisbereit ist (war) oder nicht. Traudel dreht sich um, ich streichle sie und küsse ihr den Rücken. Normalerweise schläft Traudel in der postkoitalen Erholung rasch ein, ich ebenfalls.
    Ich flüstere Traudel über die Schultern zu: Bist du verstimmt?
    Nicht im mindesten, sagt sie.
    Willst du reden?
    Es muß nicht sein, sagt sie.
    Hm, mache ich.
    Willst du reden?
    Hm, mache ich nochmal.
    Also ja, sagt Traudel und dreht sich zu mir.
    Ich fasse mir ein Herz und sage: Du hast vor einiger Zeit gesagt, daß du heiraten willst.
    Das macht dir Kummer?
    In gewisser Weise, sage ich.
    Dann kann ich dich beruhigen. Ich will nicht unbedingt heiraten. Meine Mutter möchte, daß ich heirate.
    Deine Mutter, seufze ich.
    Du kennst sie ja. Sie setzt mich unter Druck. Meine Schwester ebenfalls. Mir ist es egal, ob ich verheiratet bin. Ich möchte etwas anderes, sagt Traudel.
    Du willst eine Eigentumswohnung.
    Traudel lacht.
    Falsch? frage ich.
    Völlig falsch, sagt Traudel.
    Mit einer Wohnung gibst du dich nicht zufrieden. Du willst ein Haus.
    Noch falscher, sagt Traudel, ich will ein Kind.
    Obwohl ich es geahnt habe, fällt mir jetzt nichts ein. Das erschreckt dich?
    Ja, gebe ich zu.
    Wenn du überhaupt nicht willst, vergessen wir es. Es ist nur so ein Gefühlsflattern, so ein Zittern, das geht auch wieder vorbei.
    Du hast einen Plan? frage ich.
    Mein Plan ist, daß ich keinen habe.
    Wir lachen.
    Aber wenn ich ein Kind bekäme, wäre es nicht schlecht, wenn ich verheiratet wäre, meint meine Mutter.
    Du hast ihr gesagt, daß du ein Kind willst?
    Ja, sagt Traudel.
    Müßte ich heiraten, um deine Mutter zufriedenzustellen?
    In ihrer Jugend waren die Frauen verheiratet, wenn sie Kinder kriegten.
    Das ist eine Weile her, sage ich.
    Unverheiratete Frauen mit Kind nannte man damals ledige Mütter, das war ein Schimpfwort. Deswegen wollte meine Mutter als junges Mädchen ganz schnell heiraten. Dabei ging es gar nicht um Kinder. Die Frauen wollten versorgt sein. Kaum eine hatte einen Beruf. Auch meine Mutter ist berufslos, bis heute, aber sie ist wenigstens Mutter und Ehefrau geworden, das war der Ausweg.
    Und worauf muß ich mich jetzt einstellen?
    Daß es einfach passiert. Vielleicht aber auch nicht. Ich bin achtunddreißig, dann wirds eng. Aber ich hatte den Kinderwunsch nicht früher, sagt Traudel.
    Du hast ... äh ... einen richtigen ... äh ... Kinderwunsch?
    So richtig auch wieder nicht, sagt Traudel, ich bin, wie soll ich sagen, zur Zeit liebesinkontinent, verstehst du, was ich meine?
    Wir lachen.
    Ich habe nicht unbedingt Lust auf Schwangerschaft und Kinderzimmer und das alles, aber ich habe auch keine Lustmehr aufzupassen; wenn es passiert, passiert es, wenn nicht, dann nicht.
    Hm, mache ich.
    Das paßt dir alles nicht? fragt Traudel.
    Na ja, ich weiß was Schöneres.
    Wovor hast du Angst?
    Das kann ich dir sagen, sage ich, ich habe Angst vor der Zerstörung unserer jetzt
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