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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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will, daß ich die Vergänglichkeit meiner selbst dadurch schon begreife. Aber ich kann immerhin sagen: Ich habe mich mit meinem Tod sozusagen auf Tuchfühlung eingerichtet. Wenn ich ein Buch schreiben könnte, wäre seine Hauptthese: Der Mensch kann Katastrophen immernur betrachten, nicht verstehen. Eine kleine widerliche Unruhe verhindert, daß ich einschlafen kann. Vermutlich habe ich doch wieder ein bißchen Angst vor dem Augenblick, wenn Traudel die Wohnung betritt. Obwohl ich weiß Gott lange genug mit ihr zusammenlebe, fürchte ich immer noch, daß ich die dauerhafte Anwesenheit eines anderen Menschen eigentlich nicht aushalte. Auf diesem eigentlich beruht das halbe Leben! Ich habe den Beruf eines Wäschereigeschäftsführers, aber eigentlich drängt es mich nach ganz anderen Dingen. Ich lebe in einer großen dreckigen Stadt, aber eigentlich möchte ich ganz woanders leben. Ich lebe mit Traudel zusammen, aber eigentlich – nein, diesen Gedanken traue ich mich nicht zu denken. Und habe ihn doch schon gedacht. Prompt ist es wieder soweit: Ich muß eine Katastrophe anschauen, ohne sie zu verstehen.
    Die Wespe nähert sich mir und will offenbar auf meiner Hand landen. Zuerst zucke ich zurück, aber dann lasse ich die Hand doch so liegen, wie sie liegt, und die Wespe nimmt mit gebotener Vorsicht auf ihr Platz. Ich muß nur darauf achten, daß das Tier nicht in die Mitte des Handrückens vordringt. Natürlich habe ich nichts gegen Traudel. Ich komme nur nicht damit zurecht, daß ich mich fortlaufend zu ihr verhalten muß. Ich werde dadurch daran erinnert, daß ich leider ein komplizierter Mensch bin. In der Mitte meines Handrückens würde sich die Wespe in ein paar Haaren verfangen und aus Panik vielleicht stechen müssen. Aber die Wespe schätzt die Gefahrenzone klug ein und bleibt der Behaarung fern. Nach ein paar Augenblicken hebt die Wespe ab und fliegt unsanft gegen die Scheibe. Jaja, denke ich, auch du armes Tier mußt zu einem Hysteriker des Ichs werden. Dabei wird Traudels Heimkehr ablaufen wie immer. Sie wird sich zum Sofa niederknien, sie wird mir ihre Hand unter das zerfetzte Unterhemd schieben und wird mich küssen.Allenfalls wird sie mich fragen, warum ich nicht schlafe, und ich werde ungenau antworten: Nichts Bestimmtes, allgemeine Unruhe. Und während wir uns küssen, werden wir wieder beeindruckt sein von unserer Dauerhaftigkeit als Paar.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
ZWEI
    Dennoch leiden wir seit ein paar Monaten an unangenehmen, bis jetzt überwiegend stumm ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten. Das Problem ist: Traudel will nun doch geheiratet werden. Nicht sofort, aber irgendwann schon. Ich räume ein, daß ich zu Beginn unseres Zusammenlebens eine »Eheschließung« (Schon dieses Wort!) nicht völlig ausgeschlossen habe. Allerdings habe ich eher damit gerechnet, daß sich Traudels Ehewunsch mit den Jahren verlieren wird. Das Gegenteil ist der Fall. Meine Abwehrstrategie war zunächst, daß ich mich als ungeeigneten Ehekandidaten dargestellt habe. Immer wieder habe ich gesagt, daß es mir rätselhaft ist, warum eine Frau ausgerechnet mit mir verheiratet sein wolle. Ich habe sowohl über meine offene als auch über meine versteckte Schlamperei gesprochen, über meine Scheu vor Verantwortung, über meine katastrophalen Defizite als Handwerker, überhaupt über meine Unlust, mich um Belange der Urlaubsplanung, der gelegentlichen Kellerreinigung, der Fürsorge fürs Auto und so weiter zu kümmern. Traudel antwortet stets, daß ihr meine Mängel seit langem bekannt sind, daß diese aber keine Gründe seien, mit mir nicht verheiratet sein zu wollen. Danach machte ich ein Argument geltend, von dessen Subtilität ich überzeugt war. Ich sagte, daß ich mich von einer Ehe stark eingeschränkt fühlte; nicht faktisch eingeschränkt, sondern nur phantasiert eingeschränkt, aber eine phantasierte Einschränkung sei viel tückischer als eine wirkliche. Dann habeich darüber geredet, daß der Sicherheitszugewinn, in dem sich verheiratete Frauen wähnen, eine Gespensterei sei, im Grunde ein Wahn. Ja, sagte Traudel daraufhin, die Sicherheit der verheirateten Frau ist ein Wahn, aber nicht wahnhafter als dein Gefühl von der phantasierten Einschränkung.
    Daraufhin fiel mir nichts mehr ein.
    Sollen wir nicht beide unseren Wahn aufgeben, sagte Traudel, du deinen Wahn von der Einschränkung und ich meinen Wahn von der Sicherheit?
    Zerknirscht hielt ich den Mund,
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