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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten
Autoren: Wilhelm Genazino
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gefallen. Sie würde dann zu ihrem Mann sagen: Mein Bruder hat die Briefmarke auf meinem Brief an ihn noch einmal verwendet. Der Mann würde dazu wortlos nicken und meinen Brief an seine Schwester nicht lesen, genauso wie Traudel die Briefe meiner Schwester an mich nicht liest. Ich lege ein Blatt Papier auf den Küchentisch und suche einen Bleistift. Aber es ist schwierig, einen Brief an meine Schwester zu schreiben. Während ich sitze und überlege und dabei unentwegt auf die sich im Wasser lösende Briefmarke schaue, muß ich schon wieder an Traudel denken. Das wäre ein schöner Briefanfang: Liebe Elisabeth (so heißt meineSchwester), ich schreibe Dir einen Brief, obwohl ich unentwegt an Traudel denke. Vor einigen Jahren, als Traudel Schwierigkeiten mit der Liebe hatte, ging sie dazu über, sich Babyöl über die Schamlippen zu träufeln, bevor wir ins Bett gingen. Durch das Babyöl wurde ihr Geschlecht ganz weich, wodurch ich leicht in sie eindringen konnte. Erst viel später kam ich auf den Gedanken, daß Traudels damals fast immer trockenes Geschlecht eine Art Widerstand gegen die Liebe und vielleicht auch gegen mich (oder nur gegen mich) war. Zum Glück habe ich das damals alles nicht verstanden. Ich glaubte seinerzeit, Traudel wolle mir lediglich das Leben erleichtern. Babyöl auf die Schamlippen! Was für ein schlichter und doch so wirksamer Einfall! Ich habe nie erfahren, wodurch Traudels damaliger Widerstand ausgelöst worden ist und wodurch er wieder verschwand.
    Die Erinnerung an diesen großartigen Einfall macht mich plötzlich dankbar, ich kenne das von mir. Inzwischen hat sich die Briefmarke gelöst. Über das Liebe Elisabeth! ist der Brief an meine Schwester bis jetzt nicht hinausgekommen. Ich weiß schon jetzt, daß ich die halbe Nacht hier verbringen kann, es wird mir kein Briefanfang einfallen. Ich hole die Briefmarke aus dem Tellerchen heraus und lege sie schräg über den Rand des Tellerchens, damit sie schnell trocknen kann. Es wäre nicht das erste Mal, daß ich Elisabeth einen komplett erfundenen Brief schreibe, ich meine: indem ich komplett erfundene Ereignisse beschreibe. Das mache ich zuweilen auch in der Firma. Wenn die Stille gar zu sehr drückt, fange ich plötzlich an, von privaten Erlebnissen zu erzählen, die mir niemals zugestoßen sind. Die Not zwingt uns alle zu einer Deutlichkeit, die so kraß eigentlich niemand sehen will. Traudel hat mich schon mehrfach auf den kleinen Widerstand aufmerksam gemacht, der sich seit Tagen beim Schließen des Eisschranks bemerkbar macht. Ich öffne denEisschrank und sehe, daß eine Gummilasche ein Stück weit aus ihrer Halterung herausgetreten ist. Es ist ganz leicht, den Widerstand zu beheben. In meiner inneren Ergebenheit Traudel gegenüber komme ich mir echter vor als tagsüber. Ich hebe die Briefmarke vom Rand des Tellerchens in die Höhe und wedle sie hin und her in der Luft. Da kommt Traudel in die Küche und betrachtet mich und meinen schlichten Zeitvertreib. Willst du nicht ins Bett kommen, sagt sie, und ich folge ihr.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
DREI
    Zwei Tage später ruft mich Eigendorff um neun Uhr in sein Büro und spricht mit mir eine neue Kampagne durch. Wir werden in Kürze die Ein-Tag-Lieferzeit anbieten. Wer bis zwölf Uhr seine Wäsche bei uns abliefert oder abholen läßt (egal wieviel), wird sie am nächsten Tag bis zwölf Uhr mittags gereinigt/gewaschen, gestärkt beziehungsweise gebügelt wiederhaben können, und zwar frei Haus. Außerdem will Eigendorff den Kilo-Preis leicht senken. Ich halte das Angebot für unnötig und riskant. Der Hintergrund der Kampagne ist klar: Wir brauchen neue Kunden und wollen diese fest an den Betrieb binden. Immer mal wieder ist von Eigendorff zu hören, daß unsere Waschanlagen nicht zu hundert Prozent ausgelastet seien. Ich bin nicht sicher, ob mangelnde Rentabilität der wirkliche Grund für die Kampagne ist. In seinem Inneren glaubt Eigendorff (nicht jeden Tag, aber immer mal wieder), daß seine Angestellten ihre Arbeit zu oft bloß simulierten. Er hält viele seiner Leute für trickreiche Sozialbetrüger, die sich auf seinem Rücken ein schönes Leben machen. Wenn er frühmorgens durch den Betrieb läuft, sagt er zuweilen Guten Morgen, ihr Gauner. Er sagt es spaßig, aber wir merken doch, wie sehr ihn in der Nacht wieder das Gefühl gequält hat, von der halben Welt betrogen zu werden. Besonders heftig ist sein Verdacht gegen die
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