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Die Pinabriefe

Titel: Die Pinabriefe
Autoren: Martin Baltscheit
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1. KAPITEL, IN DEM FRANZ EINEN BRIEF SCHREIBT
    Franz ist ein stiller Mann. Außer »mmh« und »ja, ja« redet er kein Wort. Zum Glück ist Franz kein Politiker oder Schauspieler, sondern Hausmeister. Und da reicht es, wenn er »mmh« und »ja, ja« sagt.
       Henrietta lebt mit ihrer Mama in dem Haus, wo Franz Hausmeister ist. Henriettas Mama hat eine ziemlich große Wohnung. Die Wohnun g ist so groß, weil bis vor kurzem noch Henriettas Papa dort gelebt hat. Aber eines Tages hatte ihr Papa die Koffer gepackt und war verschwunden. Er ist nur kurz in Henriettas Zimmer geschlichen, hat ihr den Kopf gestreichelt und einen Kuss auf die Stirn gegeben. Dann ist er gegangen. Henrietta hat sich schlafend gestellt, weil es doch schon spät war.
       Am nächsten Morgen hat sie sich geärgert. Sie hätte ihm gerne richtig auf Wiedersehen gesagt. Aber wie konnte sie wissen, dass er nicht mehr zurückkommt? Keiner kann immer so tun, als sei jeder Abschied der letzte. Und wenn Henrietta jetzt nach ihrem Papa fragt, sagt ihre Mama immer: »Kind, frag nicht! Aber wenn er kommt, kann er gleich wieder gehen.«
       »Also ist Papa verreist«, denkt Henrietta, »und Mama ist wütend, weil er uns nicht mitgenommen hat.« Damit ist die Sache erst einmal geklärt.
       Henrietta kann »richtiges« Einkaufen nicht leiden. Und weil Henriettas Mama keine Lust hat, zu den Einkaufstaschen auch noch ihre quengelnde Tochter in die fünfte Etage zu schleppen, geht sie alleine.
       »Bis gleich, Mucki!« — »Bis gleich, Mama!«

    Wenn jeder tut, was er mag, gibt's keinen Streit, denkt Henrietta und geht in ihr Kinderzimmer. Dort wartet die Lieblingspuppe Pina samt Schminke und Wochenendhaus auf das versprochene Picknick. Pina ist die unumstrittene Nummer eins der Lieblingspuppen, weil sie so schön ist! So unglaublich m a k e l l o s ! »Wer so schön ist, ist geschminkt!«, hat Papa immer gesagt und er hatte Recht. Pina war von Natur aus geschminkt! Und all die schönen Farben in ihrem Gesicht waren absolut wasserfest!

    Lieblingsspielzeug Nummer zwei ist der Storch, der ist zwar nicht schön, aber selten und darf auch mit zum Picknick auf den Balkon. Henrietta breitet eine Decke aus. Pina mit pinkfarbener Sonnenbrille und goldener Klunkerkette, sitzt im Schatten - ihre Haut ist doch so empfindlich!
       »Nun meine liebe Pina, Kaffee oder Kuchen, was darf's denn sein?«
       »Wie bitte?«, ruft Pina empört. »Luftkaffee und Plastikkuchen? Nicht für mich! Im Kühlschrank liegt doch noch echte Schokolade!«
       Henrietta überlegt. »Wo die Dame Recht hat, hat sie Recht! Gut, ich gehe!«
       Henrietta geht, aber beim Aufstehen zieht sie die Decke ein Stück mit sich und bemerkt nicht, wie ihre Puppe dabei zur Seite rutscht, durch die Geländerstäbe fällt und in den Hinterhof stürzt. Fünf Stockwerke tief!
       »Einmal echte Schokolade für Tisch Nummer sieben!« Henrietta balanciert das Tablett auf den Balkon. »Hallo? Pina?«

    Aber Pina ist verschwunden. Henrietta sucht den Balkon ab. Nichts. Vorsichtig schaut sie über das Geländer in den Hof, aber hinter den Blättern des großen Baumes sieht sie nur die Wiese und die Mülltonnen! Hoppla! Eine der Tonnen steht offen! Vielleicht hat die Tonne sie verschluckt! Henrietta läuft zur Haustür, greift sich den Schlüssel, springt die Treppen hinunter, immer drei Stufen auf einmal, und erreicht den Hof. Sie hastet zu der Mülltonne und sieht hinein. Leer. Gott sei Dank!
       Dann sucht sie im Gebüsch. Keine Pina, nur ein frischer Hundehaufen. Zum Glück ist Pina da nicht reingefallen. Vielleicht hängt sie ja noch in den Ästen! Henrietta schaut hinauf. Blauer Himmel, Sonne, nur ein großer Vogel fliegt vorbei, aber von Pina keine Spur.

 

   Henrietta hat noch den ganzen Innenhof abgesucht, jetzt sitzt sie auf der breiten Wurzel des großen Baumes und grübelt. Weinen oder nicht weinen? Was hat Papa immer gesagt? »Wenn ein Schmerz hinaus will, braucht er Tränen, sonst wächst er fest und man wird blind!« Henrietta hält sich die Hände vor das Gesicht und weint. Eine ganze Weile. Als sie die Augen wieder aufmacht, tanzt ein weißes Tuch vor ihrer Nase.
       »Mmh!«, räuspert sich jemand. Henrietta nimmt das Tuch, schnäuzt sich und gibt es zurück. Franz der Hausmeister steckt es wieder ein, dreht sich um und will gehen.
       »Hast du meine Puppe gesehen?«
       Franz bleibt stehen, sieht das Mädchen an und schüttelt den
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