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Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Titel: Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Autoren: Peter Orullian
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zusammengebissenen Zähnen.
    Ich könnte mir den Jungen schnappen und zu Shanbes Wagen laufen. Er würde uns gewiss vor Jastail beschützen. Er ist ein guter Mensch.
    Bei diesem Gedanken stand sie auf und betrachtete Penit, der beinahe sehnsüchtig die beiden Männer beobachtete, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf auf die Hände. Sie tat einen Schritt auf den Jungen zu, doch da sprang Jastail auf und schnitt ihr den Weg ab. Rasch setzte er sich neben Penit und schlang einen Arm um ihn.
    »Wir glauben, dass Penit dieses Rennen gewinnen wird«, sagte Jastail. Er wandte sich dem Jungen zu und zerzauste ihm mit der freien Hand das Haar. »Nicht wahr, Penit?«
    Penit lächelte ein wenig verlegen und schlang dann einen Arm um Jastails Taille.
    »Er ist also Euer Sohn?«, fragte Shanbe und musterte die beiden bedächtig.
    Wendra war klar, dass Jastail dieser seltsame Blick des Ta’Opin auffallen würde. Und auf einmal fürchtete sie um Shanbe.
    Ich hatte gehofft, dass er uns retten könnte. Jetzt werde ich womöglich ihn retten müssen.
    »Nicht mein Sohn, nein«, sagte Jastail.
    Ein schmerzlicher Ausdruck verdrängte das Lächeln aus Penits Gesicht.
    »Besser«, fügte Jastail schnell hinzu. »Wir sind wie Brüder, richtig?«
    Penit nickte, doch Wendra fand, dass der Junge so aussah, als tobten machtvolle Gefühle in ihm.
    Der Ta’Opin wandte sich Wendra zu. »Dann seid Ihr …«
    »Würdet Ihr mit mir singen?«, unterbrach sie ihn.
    Shanbes Verwirrung war offenkundig. Langsam zog er die mächtigen Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. Wendra konnte die vorgetäuschte Nähe und Verbundenheit nicht ertragen, die Jastail dazu benutzte, Penit Respekt abzunötigen. Sie wandte sich von den beiden ab, ging zu dem Ta’Opin hinüber und setzte sich in seine Nähe.
    »Was wollen wir singen?«, fragte sie.
    »›Am langen Fluss‹?«, schlug der Ta’Opin vor, doch es klang geistesabwesend.
    Sie sah in seinen Augen, dass er immer noch versuchte, die Verhältnisse zwischen ihnen dreien zu durchschauen. Jastail hatte behauptet, Penit sehr nahezustehen, aber warum? Und Wendra hatte ihre Beziehung zu Penit überhaupt nicht erklärt. Sie merkte dem Ta’Opin an, dass er sich Gedanken darüber machte. Zwar hatte sie zunächst geglaubt, er könnte sie vielleicht vor Jastail retten, aber jetzt hoffte sie nur noch, dass er morgen wohlbehalten auf seinen Wagen steigen und davonfahren würde.
    »Ich kenne das Lied nicht«, sagte Wendra, »aber wenn Ihr es mir einmal vorsingt, stimme ich mit ein.«
    Shanbe beäugte sie nachdenklich, ließ dann den Blick über seine Wagenladung schweifen, stellte schließlich den Becher weg und räusperte sich. Sie hörte ein tiefes Summen in seiner Kehle, wie Wasser auf einem Schleifstein, der für die Arbeit vorbereitet wurde. Auf einmal löste sich die Anspannung aus seinem Kiefer, und der Ta’Opin begann zu singen. Die Melodie ließ sich tief um sie herum nieder, als striche sie dicht über den Boden, nicht höher als bis zu ihren Knöcheln. Er sang leise und in langgezogenen, samtigen Tönen, die mühelos aus seiner Kehle strömten. Wendra hörte, wie fein geschult seine Stimme war, volltönend, weich, jedes Wort klar betont. Er sang langsam und ließ jedem Ton Zeit, sich zu entfalten. Doch nach ein paar Takten schloss Shanbe die Augen und folgte dem Lied, wohin es ihn zog.
    Wendra warf einen kurzen Blick über das Feuer zu Penit. Er lauschte hingerissen, ein staunendes Lächeln auf den Lippen und mit hochgezogenen Augenbrauen. Auch Jastail hörte zu, aber die tiefen Klänge schienen in ihm etwas anderes zu berühren: Der Wegelagerer starrte wie auf Dinge, die nur er allein sehen konnte. Der leere, gleichgültige Blick, den sie inzwischen so verabscheute, passte zu den schweren Lidern und spannte seine Lippen zu einem Ausdruck, der beinahe traurig wirkte.
    Die Melodie stieg allmählich an, als hätte Shanbe sie mit fröhlicheren Tönen gelockt. Das Lied wurde lebhafter, und Wendra konnte den Fluss vor sich sehen, den das Lied besang. Sie meinte beinahe, seine Strömung zu spüren, seine Ufer kennen zu lernen und die Welt in seiner glatten Oberfläche gespiegelt zu sehen. Die Melodie war nicht zum Tanzen geeignet, doch sie erfüllte Wendra mit einer Art Hoffnung. Nicht für sie selbst, sondern ganz allgemein, wie der Frühling nach einem grausamen Winter.
    Shanbe kam zu einem eleganten Motiv, in dem eine Stimme die eine Seite der Geschichte erzählte und eine zweite antwortete. Die
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