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Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Titel: Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Autoren: Peter Orullian
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erste Stimme hob sich stets wie in einfachen Fragen, Fragen eines Kindes über den Fluss und seinen Lauf. Die zweite Stimme beantwortete sie in einer tieferen Tonlage – der Stimme der Erfahrung, eines Vaters, der dem Kind die Schönheit, die Gefahren und das Ziel des Gewässers erklärte.
    Plötzlich stand Wendra das Bild eines Bar’dyn vor Augen, der sich über sie beugte und ihr das ungeborene Kind aus dem Leib zog. Der zähe Kupfergeruch von Blut drang ihr in die Nase, und sie sah das breite, starre Gesicht des Stilletreuen, der am Fußende ihres Lagers stand und auf ihren entblößten Schoß starrte. Ihr Geist schwankte unter der Erinnerung an ihr Zuhause, das sie durch verweinte, vor Qual zusammengekniffene Augen nur noch verzerrt sehen konnte. Sie hörte, wie sie Tahn vergebens um Hilfe anflehte.
    Shanbes Lied erzählte frohgemut vom alltäglichen Wunder eines Flusses, über den Vater und Kind sich so viel zu sagen hatten. Mit jeder Frage kam eine neue Entdeckung, jede Antwort enthüllte dem kindlichen Geist eine einfache Wahrheit. Doch jeder Ton des Liedes machte Wendras Erinnerungen noch lebhafter. Die Schönheit der Melodie war schmerzlich, denn sie erinnerte sie an das Kind, das sie an Nacht und Regen verloren hatte. Doch es schwang darin auch die Hoffnung mit, die jeder Geburt innewohnt.
    Ihr Mund öffnete sich wie von allein, und Wendra begann zu singen. Während Shanbes Melodie sich mit immer neuen Fragen, neuen Antworten und reicheren Metaphern für den Fluss fortsetzte, wob Wendra ihre eigenen Harmonien aus schmerzlicher Schönheit dazwischen. Sie sang, ohne darüber nachzudenken, welchen Ton sie als Nächstes singen würde. Vage war ihr bewusst, dass Shanbe sich zu ihr umdrehte und sie ansah. Doch sie schaute an ihm vorbei und verlieh dem grausamsten Augenblick ihres Lebens singend Ausdruck. Ihre Klage hallte als lang gezogenes Echo durch die Nacht wie der Ruf eines Seetauchers in der Abenddämmerung.
    Da veränderte sich das Bild, denn in der Welt, die der Ta’Opin mit seinem Lied erschuf, ergossen Wolken ihren Regen auf den Fluss. Wendras Melodie klang so noch finsterer. Sie hob sie an, sang höher, aber weicher, und ihre Stimme bekam ein hauchiges Timbre. Sie hatte noch nie so gesungen, aber es kam ihr richtig vor.
    Die Melodie des Ta’Opin sank zu einem Flüstern herab, so tief, wie seine Stimmlage reichte. Mit geöffneten Lippen hielt er diese tiefen, langen Töne, damit der Fluss weiterströmte, während Wendra ihre dunkle Geschichte darüberbreitete. Ihre Stimme kam mal heftig, dann wieder heiser aus ihrer Kehle, sie flatterte und fiel immer wieder ab wie ein verletzter Vogel, der dem Fluss aus Shanbes Vision entgegenstürzte. Und als sie glaubte, ihr Lied sei zu Ende, als sie glaubte, der Schmerz über den Verlust ihres Kindes werde ihr die Kehle zuschnüren, ehe sie ihn ausdrücken konnte, da schwoll das Lied zu einem Crescendo an, das ihre Brust ausfüllte und ihre Stimme wie ihren Schmerz so weit in die Höhe trieb, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Shanbe folgte ihr, vollkommen im Takt. Seine kraftvolle Bassstimme ließ Wendras Brust vibrieren. Doch sie selbst stieg höher hinauf, ein klarer, durchdringender Ton tanzte durch die Harmonien, bis der Augenblick ihres schrecklichen Verlustes so wirklich für sie war wie dieser Moment am Feuer.
    Sie hielt den Ton, der in ihrem Kopf dröhnte und ihr jeden Herzschlag bewusst machte. Zugleich spürte sie die explosive Macht von Shanbes starkem Rhythmus darunter. Dann hörte sie zu singen auf. Shanbe beendete seinen Gesang in demselben Moment, als hätten sie dieses Duett schon viele Male geübt. Die grausige Erinnerung verschwand schlagartig. Und sie saß neben dem Ta’Opin, lauschte dem Nachhall ihrer letzten Töne zwischen den Erlen und draußen auf der harten Landstraße, die sie beide hierhergeführt hatte.
    Als die Töne verklungen waren und sie nur noch das Feuer knistern hörte, wandte sie sich Shanbe zu und sah eine Pein in seinem Gesicht wie die eines Vaters, der einen toten Sohn betrauert. Hatte er gesehen, was sie gesehen hatte?
    Rasch warf sie einen Blick zu Penit hinüber und stellte erleichtert fest, dass er immer noch wie gebannt staunte. Jastails Blick wollte sie nicht begegnen. Rasch erhob sie sich mit schwachen Knien und verließ den kleinen Kreis aus Feuerschein.

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    I n einem schäbigen Viertel von Decalam eilte die Regentin von Schatten zu Schatten. In den Gassen brannten offene Feuer, Tiere leckten an
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