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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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hier ist ein Polizeieinsatz, ein ausgesprochen heikler!« Daß ausgerechnet sie es sein mußte, deren Hilfe er brauchte, war in höchstem Maße ärgerlich – wenn auch unbestreitbar. Sie war in vieler Hinsicht genau das, was er an Frauen nicht ausstehen konnte, das totale Gegenteil jener Sanftheit, die nach wie vor tief in seinem Gedächtnis schlummerte.
    »Selbstverständlich, Mr. Monk«, gab sie mit hoch erhobenem Kinn und direktem Blick zurück – und er wußte im selben Moment, daß sie damit gerechnet hatte und zu spät zum Zug gekommen war, um die Möglichkeit auszuschalten, wieder nach Hause geschickt zu werden. Und fraglich war, ob sie überhaupt gegangen wäre! Abgesehen davon würde Evan es niemals gutheißen, sie auf dem Bahnsteig in Shelburne stehenzulassen. Und ihm war wichtig, was Evan guthieß.
    So blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr gegenüberzusitzen und sie grimmig anzustarren.
    Sie erwiderte seinen Blick mit einem fügsamen, offenen Lächeln, das ihm weniger freundlich als triumphierend vorkam.
    Den weiteren Verlauf der Fahrt brachten sie mit Höflichkeitsfloskeln über die Runden, gegen Ende versank jedoch jeder in seinen eigenen Grübeleien und Befürchtungen.
    Als sie in Shelburne aus dem Zug stiegen, schlug ihnen ein eiskalter Wind entgegen. Der Winter lag in der Luft. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war verhangen und wirkte düster und bedrohlich.
    Sie mußten etwa fünfzehn Minuten auf den Einspänner warten, der sie zum Herrenhaus bringen sollte. Auch diesen Teil der Reise legten sie schweigend zurück, während sie dicht aneinandergedrängt auf der schmalen Sitzbank saßen. Jeder von ihnen harrte bedrückt der Dinge, die da kommen würden, so daß ein banales Gespräch grotesk gewesen wäre.
    Der Lakai ließ sie zwar widerstrebend hinein, weigerte sich aber hartnäckig, sie in den Salon zu führen. Statt dessen mußten sie im Damenzimmer warten – dessen kleines Kaminfeuer sie weder aufzuheitern noch zu erwärmen vermochte –, bis Ihre Ladyschaft sich entschieden hatte und bereit war, sie zu empfangen.
    Nach fünfundzwanzig Minuten kehrte der Lakai zurück und brachte sie ins Boudour. Fabia thronte blaß und etwas mitgenommen, aber gefaßt auf ihrem Lieblingssofa.
    »Guten Morgen, Mr. Monk.« Sie nickte Evan zu:
    »Constable«, dann wurde ihr Blick eisiger. »Guten Morgen, Miss Latterly. Sie können Ihr Erscheinen in derart kurioser Begleitung erklären, nehme ich an?«
    Hester packte den Stier bei den Hörnern, ehe Monk sich eine Erwiderung einfallen lassen konnte.
    »Ja, Lady Fabia. Ich bin hier, um Sie über die wahren Hintergründe meiner – und Ihrer – Familientragödie aufzuklären.«
    »Sie dürfen sich meines aufrichtigen Beileids sicher sein, Miss Latterly.« Fabia betrachtete sie mitleidig und angewidert zugleich. »Aber ich habe weder das geringste Verlangen, die Einzelheiten Ihrer Familientragödie kennenzulernen, noch wünsche ich, meine eigene Trauer mit Ihnen zu besprechen. Das ist eine Privatangelegenheit. Ich weiß Ihre guten Absichten zu schätzen, sie sind nur fehl am Platze. Guten Tag. Der Lakai wird Sie zur Tür begleiten.«
    Monk spürte Wut in sich hochsteigen. Ihre Blindheit und totale Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber waren ungeheuerlich.
    Hester war ihre Entschlossenheit anzusehen. Ihr Gesicht wurde hart wie Granit, bis es Fabias in nichts nachstand.
    »Es handelt sich um ein und dieselbe Tragödie, Lady Fabia. Ich bin nicht gekommen, um Ihnen meine guten Absichten zu demonstrieren, sondern um mich einer Wahrheit zu stellen, der sich keiner von uns verschließen darf. Es macht mir nicht den geringsten Spaß, genausowenig gedenke ich, davor wegzulaufen.«
    Fabia hob das Kinn, wodurch die dünnen Muskelstränge ihres Halses deutlich hervortraten. Sie wirkte plötzlich mager und ausgezehrt, als wäre sie seit ihrer Ankunft um Jahre gealtert.
    »Ich bin noch nie von einer Wahrheit davongelaufen, Miss Latterly. Ihre unverschämte Andeutung berührt mich nicht im mindesten. Sie vergessen sich!«
    »Ich würde gern alles vergessen und einfach nach Hause gehen.« Ein geisterhaftes Lächeln glitt über Hesters Züge und machte sich sofort wieder aus dem Staub. »Aber ich kann nicht. Ich denke, es wäre besser, Lord Shelburne und Mr. Menard Grey hereinzurufen, damit sie die Geschichte mit eigenen Ohren hören können. Vielleicht haben sie die eine oder andere Frage – schließlich war Major Grey ihr Bruder, und sie haben ein gewisses
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