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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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verschwunden. Und die Zeit war abgelaufen.
    »Miss Latterly!«
    »Ja. Ja! Ich komme mit nach Shelburne Hall. Ich glaube, es besteht eine Aussicht auf Erfolg, wenn Sie Lady Fabia die Wahrheit über Joscelin sagen, und ich werde Ihnen den Rücken stärken. Auch meine Familie ist ihm zum Opfer gefallen – es wird ihr nichts anderes übrigbleiben, als mir zu glauben, denn ich hätte kaum ein Interesse, sie zu belügen. Der Tod meines Vaters ist nach Ansicht der Kirche ohnehin nicht zu entschuldigen.« Sie stockte kurz. »Wenn Sie ihr dann von Edward Dawlish erzählen und sie ahnt was bestimmt der Fall sein wird –, daß Menard Joscelin getötet hat, sieht er vielleicht keinen anderen Ausweg, als die Tat zu gestehen. Es wird sie niederschmettern, vielleicht sogar zerstören.« Sie sprach jetzt sehr leise. »Und Menard wird möglicherweise gehängt. Aber wir dürfen nicht zulassen, daß Mr. Monk an seiner Stelle hängen muß, nur weil die Wahrheit so schrecklich ist, daß sie eventuell eine tödliche Wunde reißt. Joscelin Grey hat viel Böses getan. Wir dürfen seine Mutter weder davor schützen, sich ihre eigene Schuld daran einzugestehen, noch können wir ihr den Schmerz ersparen, über den geliebten Sohn Bescheid zu wissen.«
    »Sie kommen morgen mit nach Shelburne Hall?« Er mußte es noch einmal hören. »Sie werden ihr sagen, was Joscelin Ihrer Familie angetan hat?«
    »Ja. Und wie er sich in Skutari die Namen der Sterbenden beschafft hat, um ihre Familien später hinters Licht zu führen. Wann wollen Sie aufbrechen?«
    Evan wurde von einer Woge der Erleichterung erfaßt und bewunderte Hester für ihre Entschlußfreudigkeit. Aber es erforderte auch mehr als den üblichen Mut, auf die Krim zu gehen, um dort als Krankenschwester zu arbeiten; und um dort zu bleiben, brauchte man manchmal enorme Willenskraft.
    »Das habe ich mir noch nicht überlegt«, gab er verlegen zu.
    »Wenn Sie sich nicht bereit erklärt hätten mitzukommen, hätten wir uns den Weg sparen können. Lady Shelburne ist sicher nicht durch die Aussage von zwei Polizisten zu überzeugen. Sagen wir, mit dem ersten Zug nach acht Uhr früh?« Dann fiel ihm ein, daß er es mit einer Dame vornehmer Herkunft zu tun hatte.
    »Oder sollen wir lieber etwas später fahren?«
    »Nein, das ist nicht nötig.« Hätte er ihr Gesicht sehen können, wäre ihm das schwache Lächeln nicht entgangen.
    »Danke, Miss Latterly. Was halten Sie davon, wenn ich jetzt aussteige und Mr. Monk informiere, und Sie fahren mit der Kutsche nach Hause zurück?«
    »Das ist vermutlich das praktischste«, stimmte sie zu. »Wir sehen uns morgen früh am Bahnhof.«
    Evan hätte gern noch etwas hinzugefügt, doch alles, was ihm in den Sinn kam, war entweder bereits gesagt oder würde zu gönnerhaft klingen. Er bedankte sich noch einmal kurz und kletterte in die kalte, regnerische Nacht hinaus. Erst als die Kutsche längst von der Dunkelheit verschluckt worden war und er sich bereits auf halber Höhe zu Monks Wohnung befand, schoß ihm siedendheiß durch den Kopf, daß er es ihr überlassen hatte, den Fahrer zu bezahlen.
    Die erste Hälfte der Zugfahrt nach Shelburne war von hitzigen Wortgefechten erfüllt, die zweite von tiefem Schweigen. Monk war wegen Hester’s Anwesenheit furchtbar erbost. Wäre der Zug nicht bereits aus dem Bahnhof gerollt, als sie vom Gang ins Abteil trat, ihnen einen guten Morgen wünschte und sich ihm gegenüber niederließ, hätte er sie nach Hause zurückgeschickt.
    »Ich habe Miss Latterly gebeten, uns zu begleiten«, erklärte Evan, ohne rot zu werden, »weil ihre Aussage bei Lady Fabia schwer ins Gewicht fallen wird. Uns allein würde sie kaum glauben, da wir ein offensichtliches Interesse daran haben, Joscelin als Schuft hinzustellen. Die Erfahrungen, die Miss Latterly und ihre Familie mit ihm gemacht haben, kann sie nicht anzweifeln.« Leider beging er nicht den Fehler zu behaupten, Miss Latterly habe aufgrund ihres eigenen Kummers und ihres Beitrags zur Lösung des Problems jedes moralische Recht, dabei zu sein. Monk wünschte, er hätte, denn dann hätte er das Recht gehabt, aus der Haut zu fahren und ihn der Faselei zu bezichtigen. Das Argument, das Evan ihm statt dessen präsentierte, war vernünftig und zutreffend. Hesters Bestätigung konnte die Situation sehr gut zum Kippen bringen, was die Greys ansonsten mit vereinten Kräften verhindern würden.
    »Ich verlasse mich darauf, daß Sie nur etwas sagen, wenn Sie gefragt werden«, sagte er kalt. »Das
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