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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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herausgefunden, wer Major Grey ermordet hat?«
    Wozu es noch länger hinausschieben? Die Würfel waren gefallen.
    »Ja, Miss Latterly. Mr. Monk ist noch einmal alle Schritte seiner ersten Untersuchung durchgegangen – mit Ihrer Hilfe.« Evan atmete tief durch. Jetzt, wo es endlich soweit war, kroch die Kälte in ihm hoch; er war naß bis auf die Haut und zitterte.
    »Joscelin Grey bestritt seinen Lebensunterhalt, indem er die Familien von Männern ausfindig machte, die auf der Krim gefallen waren, und ihnen vorgaukelte, er hätte den Betreffenden gekannt und sich mit ihm angefreundet. Er behauptete entweder, mit seinem Geld für die Spielschulden dieser Freunde nach deren Tod aufgekommen zu sein, oder – wie im Fall ihres Bruders – ihnen einen wertvollen, persönlichen Gegenstand geliehen zu haben, zum Beispiel eine Uhr. Fühlte sich die Familie daraufhin schuldig, weil sie sie ihm nicht zurückgeben konnte – was unmöglich war, da sie nicht existierte –, zog er geschickt Nutzen daraus. Er ließ sich einladen, finanziell unterstützen oder gewann durch den gesellschaftlichen Einfluß der Leute erhebliche Vorteile. Meistens ging es nur um ein paar hundert Guinee oder um einen zeitweiligen, kostenlosen Aufenthalt im Haus der Hinterbliebenen. Im Fall Ihres Vaters führte es zum Bankrott und anschließend zum Tod. Aber wie die Sache auch ausging, Grey war es egal, und er hatte nicht die Absicht, damit aufzuhören.«
    »Was für ein abscheuliches Verbrechen«, sagte sie ruhig. »Er muß ein erbärmlicher Mensch gewesen sein. Ich bin froh, daß er tot ist der Mörder tut mir sogar ein bißchen leid. Aber Sie haben noch nicht gesagt, wer es war.« Ihr wurde plötzlich ebenfalls kalt. »Mr. Evan –?«
    »Ja, Ma’am. Mr. Monk ging zu ihm in die Wohnung am Mecklenburg Square und stellte ihn zur Rede. Sie gerieten aneinander. Mr. Monk hat ihn geschlagen, aber er war definitiv am Leben und nicht ernsthaft verletzt, als Mr. Monk das Haus wieder verließ. Unten auf der Straße kam ihm aber jemand anders entgegen und verschwand in der Tür, die im Wind klapperte und offenstand.«
    Er sah Hester im fahlen Licht der Straßenlaternen, das durch die Fenster fiel, erbleichen.
    »Wer?«
    »Menard Grey.« Evan wartete auf ein Zeichen, ob sie ihm glaubte. Sie schwieg. »Vermutlich weil Joscelin das Andenken an seinen Freund Edward Dawlish beschmutzt hat und Edwards Vater dazu brachte, ihm seine Gastfreundschaft zu gewähren – genau wie Ihren Vater. Später hätte er dann auch Geld genommen.«
    Hester hüllte sich einige Minuten in Schweigen. Sie rumpelten durch die dunklen Straßen, nur hin und wieder gestreift von dem schwachen Strahl einer Laterne. Der Regen trommelte aufs Dach und lief in Sturzbächen die Fenster hinab.
    »Was für eine traurige Geschichte«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang gepreßt, als schnüre ihr der Kummer die Kehle zu. »Armer Menard. Ich nehme an, Sie werden ihn festnehmen. Weshalb sind Sie zu mir gekommen? Ich kann Ihnen nicht helfen.«
    »Wir können ihn nicht festnehmen«, gab Evan hastig zurück.
    »Wir haben keine Beweise.«
    »Sie –« Hester fuhr auf ihrem Sitz herum. Er spürte ihre Anwesenheit eher, als daß er sie sah. »Aber was wollen Sie dann tun? Man wird Mr. Monk für den Täter halten. Man wird ihn anklagen, ihn ihn…« Sie schluckte. »Man wird ihn hängen.«
    »Ich weiß. Wir müssen Menard zu einem Geständnis bringen. Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Idee, wie wir das bewerkstelligen können. Sie kennen die Greys besser als wir, außerdem war Joscelin für den Tod Ihres Vaters verantwortlich – und indirekt auch für den Ihrer Mutter.«
    Hester versank wieder in Schweigen, diesmal so ausgiebig, daß Evan schon fürchtete, sie beleidigt oder gekränkt zu haben. Die Kutsche näherte sich der Grafton Street. Gleich würden sie aussteigen und Monk gegenübertreten müssen – entweder mit einem Lösungsvorschlag oder dem Eingeständnis, daß es keinen gab. War letzteres der Fall, stünde er an dem Punkt, bei dessen Vorstellung sich ihm der Magen umdrehte. Entweder er erzählte Runcorn die Wahrheit – daß Monk sich in der Nacht von Greys Tod mit diesem geprügelt hatte –, oder er hielt die Information zurück und riskierte damit die Suspendierung vom Dienst und eine mögliche Anklage wegen Beihilfe zum Mord.
    Sie hatten mittlerweile die Tottenham Court Road erreicht. Die regennassen Bürgersteige glänzten im Gaslicht, die Rinnsteine waren unter den Wassermassen
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