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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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frostig isses, sogar hier drin. Juli – und benimmt sich wie’n gottverdammter November! Ich hol Ihnen mal ’n schönen warmen Tee oder ’ne Portion Haferschleim, was halten Se davon? Draußen schüttet’s wie aus Kübeln. Hier drinnen sind Se gut aufgehoben.«
    »William Monk?« wiederholte er.
    »Genau, jedenfalls haben die Polypen das gesagt. So ’n Typ namens Runcorn. Mr. Runcorn, ’n waschechter Inspektor sogar!« Er zog ein Paar zerfranste Augenbrauen hoch. »Na – was habn Se angestellt? Sind Se vielleicht so ’n Hochstapler, der den feinen Pinkeln die Brieftaschen und goldenen Uhren klaut?« Es lag nicht die geringste Spur Mißbilligung in den runden, gütigen Augen. »So habn Se nämlich ausgesehn, als man Se hergebracht hat. Richtig schick und adrett angezogen unter dem ganzen Dreck und dem zerrissenen Mantel – und dem ganzen Blut.«
    Monk sagte nichts. In seinem Kopf drehte sich alles. Mit pochenden Schläfen versuchte er, seinem umnebelten Gedächtnis einen Anhaltspunkt abzuringen, irgend etwas, nur eine einzige greifbare, klar umrissene Erinnerung. Doch nicht einmal der Name sagte ihm etwas. »William« war ihm zwar auf diffuse Weise vertraut, aber schließlich handelte es sich dabei um einen ziemlich gebräuchlichen Vornamen. Bestimmt kannte jeder Dutzende von Männern, die William hießen.
    »Sie wissen’s also nich mehr«, konstatierte der Mann mit freundlichem und leicht amüsiertem Gesicht. Er hatte sämtliche Varianten menschlicher Schwächen und Verfehlungen kennengelernt, nichts war so beängstigend oder ausgefallen, daß es ihn aus der Fassung bringen konnte. Er hatte Menschen an Pocken und Pest zugrunde gehen sehen, hatte miterlebt, wie sie voller Entsetzen über Dinge, die gar nicht vorhanden waren, die Wände hochgingen. Ein erwachsener Mann, der sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern konnte, war zwar eine Kuriosität, aber beileibe kein Grund, vor Staunen aus dem Häuschen zu geraten. »Oder Sie wolln’s nich sagen«, fügte er hinzu. »Is schon in Ordnung.« Er zuckte die Achseln. »Geben Se den Polypen nix in die Hand, wenn’s nich unbedingt sein muß. Na, wie wär’s mit ’nem bißchen Haferschleim? Is richtig schön heiß und dick, hat die ganze Zeit auf ’m Ofen gestanden. Is gut für die Lebensgeister.«
    Monk war hungrig, außerdem fror er unter der Decke.
    »Ja, gern«, sagte er dankbar.
    »Na, wer sagt’s denn, kommt sofort! Wahrscheinlich muß ich Ihnen Ihren Namen morgen auch wieder sagen, und Sie glotzen mich dann genauso blöd an wie vorhin.« Er schüttelte den Kopf.
    »Entweder habn Se sich irgendwo ganz furchtbar den Schädel angehaun, oder die Polypen haben Ihnen so ’n Schrecken eingejagt, daß Sie ganz durchgedreht sind. Was habn Se bloß gemacht! Die Kronjuwelen geklaut?« Damit schlurfte er in sich hinein kichernd auf den dickbäuchigen, schwarzen Ofen am andern Ende des Krankensaals zu.
    Polypen! War er ein Dieb? Er schreckte vor dem Gedanken zurück, nicht wegen der beängstigenden Konsequenzen, sondern vor dieser Möglichkeit selbst. Trotz alledem – er hatte nicht den leisesten Schimmer, ob es stimmte.
    Wer war er? Was für ein Mensch? Hatte er sich verletzt, während er etwas Mutiges tat, etwas Unbesonnenes? Oder hatte man ihn wegen eines Verbrechens gehetzt wie ein Tier? Oder hatte er schlicht und einfach Pech gehabt, sich zur falschen Zeit am falschen Ort befunden?
    Er zermarterte sich das Hirn und fand nichts, nicht den Funken eines Gedankens oder Gefühls. Er mußte doch irgendwo wohnen, Leute kennen, die Gesichter, Stimmen, Regungen hatten. Aber da war nichts! Danach zu urteilen, was sein Gedächtnis zu bieten hatte, konnte er seine Existenz genausogut hier, auf dem harten Lager dieser tristen Krankenhausstation, begonnen haben.
    Einen allerdings gab es, der ihn kannte. Ein Inspektor!
    In dem Moment kehrte der Pfleger mit dem Haferschleim zurück. Vorsichtig flößte er ihn Monk löffelweise ein. Das Zeug war dünn und fad, aber er war für jeden Tropfen dankbar. Anschließend ließ er sich zurücksinken, und so sehr er auch dagegen ankämpfte, nicht einmal die Angst konnte verhindern, daß er in tiefen, scheinbar traumlosen Schlaf fiel.
    Als er am nächsten Morgen aufwachte, waren ihm zwei Dinge vollkommen klar: sein Name und wo er sich befand. Er konnte sich genau an die spärlichen Ereignisse des vergangenen Tages erinnern – den Pfleger, den heißen Haferschleim, den stöhnenden und sich windenden Mann auf der Nachbarpritsche,
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