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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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vorn. Auf dem Fußboden lagen benutzte Verbände herum, gewaschen wurde nicht oft. Dennoch tat jeder zweifellos sein Bestes für den Hungerlohn, den er bekam.
    Außerdem mußte man der Krankenhausbelegschaft fairerweise zugestehen, daß sie alles menschenmögliche unternahm, ohne je zu wissen, ob sie einen Typhus-, Cholera oder Pockenkranken vor sich hatte. Wurde später eine dieser Seuchen entdeckt, war sogleich Abhilfe zur Hand: Die armen Seelen wurden kurzerhand in ihren eigenen Behausungen unter Quarantäne gestellt, damit sie in Ruhe sterben oder – so Gott wollte – sich wieder erholen konnten. Dort waren sie am wenigsten eine Gefahr für die Allgemeinheit.
    Jeder kannte die Bedeutung der schwarzen Fahne, die schlaff am Ende irgendeiner Straße baumelte.
    Runcorn hatte ihm seinen nach dem Unfall sorgfältig gesäuberten und geflickten Peeler-Umhang nebst Zylinder mitgebracht und dagelassen. Die Sachen paßten wie angegossen, wenn der Mantel auch aufgrund seiner Gewichtsabnahme durch das lange Liegen ein wenig weit war. Um die verlorenen Pfunde machte er sich die geringsten Sorgen. Er war ein großer, kräftiger und muskulöser Mann, nur sein Gesicht hatte er noch nicht gesehen, da der Pfleger das Rasieren übernommen hatte. Er hatte es lediglich befühlt, mit den Fingerspitzen auskundschaftet, wenn ihn gerade niemand beobachtete. Der Knochenbau war kräftig, der Mund anscheinend breit, mehr hatte er nicht in Erfahrung bringen können. Seine Handteller waren glatt, ohne Schwielen, dafür sprossen aus den Handrücken vereinzelt dunkle Härchen hervor.
    Offenbar hatte er bei der Einlieferung etwas Silbergeld in der Tasche gehabt, das man ihm zum Abschied nun aushändigte. Jemand anders mußte für die Behandlungskosten aufgekommen sein es sei denn, sein Polizistengehalt hatte dafür gereicht. Da stand er jetzt also draußen auf der Treppe, acht Schilling und elf Pence, ein baumwollenes Taschentuch sowie einen Briefumschlag in der Hand, auf dem sein Name und »Grafton Street 27« stand; er enthielt eine Rechnung seines Schneiders.
    Er betrachtete die Umgebung, ohne etwas wiederzuerkennen. Die Sonne schien, die Wolken fegten mit schwindelerregendem Tempo über den Himmel, der Wind war warm. Fünfzig Meter vor ihm lag eine Kreuzung, auf der ein kleiner Junge die Straße von Pferdemist und sonstigem Müll befreite, indem er emsig mit einem Besen herumfuhrwerkte. Zwei schnell galoppierende Braune mit einem klapprigen Gefährt im Schlepptau jagten an ihm vorbei.
    Monk stapfte die Stufen hinunter und schlug die Richtung zur Hauptstraße ein. Er fühlte sich immer noch schwach. Es dauerte fünf Minuten, dann hatte er einen unbesetzten Hansom geortet, ihn angehalten und dem Kutscher die Adresse genannt. Er lehnte sich auf der Sitzbank zurück und betrachtete die vorbeifliegenden Straßen und Plätze, die zum Teil von livrierten Lakaien gesteuerten Kutschen, andere Hansoms, Brauereiwagen, Lastenkarren. Er kam an Hausierern und Straßenhändlern vorbei, von denen einer frischen Aal, der nächste warme Pasteten und Plumpudding zum Verkauf anbot – was wirklich verlockend klang, denn er hatte großen Hunger –, aber da er nicht wußte, was solche Dinge kosteten, wagte er nicht zuzuschlagen.
    Ein Zeitungsjunge schrie irgend etwas, doch sie fuhren zu schnell an ihm vorbei, als daß man seine Worte durch das Pferdegetrappel hindurch hätte verstehen können. Ein Mann mit einem Bein verkaufte Streichhölzer.
    Er schien die Straßen schon einmal gesehen zu haben, allerdings war die Erinnerung daran ganz tief in seinem Gedächtnis vergraben. Er hätte keine einzige benennen können, sie waren ihm lediglich nicht vollkommen fremd.
    Tottenham Court Road. Der dort herrschende Betrieb war enorm: Kutschen, Rollwagen, Handkarren, mehrere Frauen in umfangreichen Röcken, die einen großen Schritt über den Abfall im Rinnstein machten, zwei lachende, angesäuselte Soldaten, deren leuchtende Rotröcke farbenfroh hervorstachen, ein Blumenverkäufer und zwei Wäscherinnen.
    Der Hansom bog links in die Grafton Street ein und blieb stehen.
    »Da wären wir, Sir, Nummer siebenundzwanzig.«
    »Danke sehr.« Monk stieg unbeholfen aus; er war immer noch steif und schwach. Schon dieser kurze Ausflug hatte ihn erschöpft. Er hatte keine Ahnung, wieviel er dem Kutscher bezahlen sollte, also hielt er ihm die geöffnete Hand mit einem Zweischillingstück, zwei Sixpencemünzen, einem Penny und einem Halfpenny hin.
    Der Kutscher zögerte einen
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