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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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is wahrscheinlich sowieso nich gesund.«
    »Was soll ich nachher damit machen…?« Er warf einen vielsagenden Blick auf das Tablett.
    »Na, vor die Tür stellen, wie sonst auch!« sagte sie mit hochgezogenen Brauen, sah ihn scharf an und seufzte. »Und wenn’s Ihnen heut nacht schlechtgeht, rufen Se einfach, ich komm dann rüber und schau nach Ihnen.«
    »Das wird nicht nötig sein – ich werde sicher ausgezeichnet schlafen.«
    Sie rümpfte die Nase, schnaufte ein wenig, raffte die Röcke und rauschte hinaus. Die Tür fiel mit einem lauten Klicken hinter ihr ins Schloß. Kaum war sie verschwunden, wurde ihm klar, wie unhöflich er gewesen war. Sie hatte ihm angeboten, mitten in der Nacht aufzustehen, falls er Hilfe brauchen sollte, und ihm war nichts Besseres eingefallen, als ihr zu sagen, ihre Hilfe wäre überflüssig. Trotzdem schienen seine Worte sie nicht verletzt, ja nicht einmal überrascht zu haben. War er immer so flegelhaft? Er hätte stets pünktlich und ohne Widerrede gezahlt, sagte sie. War das alles, was ihr Verhältnis zueinander ausmachte? Keine Herzlichkeit, keine Gefühlswärme – war er lediglich ein Mieter, auf den man sich in finanzieller Hinsicht verlassen konnte, und sie eine Wirtin, die ihre Christenpflicht an ihm erfüllte, weil es eben ihre Art war?
    Keine besonders schöne Vorstellung.
    Monk wandte seine Aufmerksamkeit dem Essen zu. Es war einfach, aber köstlich zubereitet, außerdem war sie, was die Portionen betraf, bestimmt nicht knickerig. Er fragte sich flüchtig und mit einer gewissen Besorgnis, wieviel er für diese Annehmlichkeiten wohl hinblättern mußte und ob er sich den Luxus noch lange würde leisten können, wenn er nicht in der Lage war zu arbeiten. Je eher er genug Kraft und klaren Verstand beisammen hatte, um den Dienst bei der Polizei wieder anzutreten, desto besser. Er konnte sie schlecht um Kredit bitten – schon gar nicht nach ihren Bemerkungen und seinem Benehmen. Gebe Gott, daß er ihr nicht bereits für die Zeit während des Krankenhausaufenthalts etwas schuldig war!
    Nach dem Essen deponierte er das Tablett draußen im Gang auf einem Tisch. Zurück in seinem Zimmer, schloß er die Tür und ließ sich in der Absicht, den Inhalt des Sekretärs in der Fensternische durchzusehen, auf einem der Lehnstühle nieder; er war jedoch so ausgelaugt und das Polster so bequem, daß er einschlief.
    Als er einige Zeit später steif, verfroren und mit schmerzender Seite wach wurde, war es bereits dunkel. Obwohl er immer noch müde war und sich gern ins Bett gelegt hätte, tastete er sich zu den Gasleuchtern und machte Licht. Er wußte genau, die Versuchung, den Schreibtisch zu erforschen, und die gleichzeitige Furcht vor möglichen Entdeckungen würden auch den allernotwendigsten Schlaf verhindern.
    Er zündete auch die Öllampe über dem Sekretär an, klappte den Aufsatz hoch und brachte so eine ebene Arbeitsplatte mit Tintenfaß, einen in Leder eingefaßten Schreibblock sowie ein Dutzend kleine, geschlossene Schubladen zum Vorschein.
    Er begann mit der obersten auf der linken Seite und arbeitete sich von dort aus nach unten rechts durch. Er mußte ein methodischer Mensch sein. Quittierte Rechnungen; ein paar Zeitungsausschnitte, in denen es ausschließlich um Verbrechen und die Genialität der Polizei bei deren Aufklärung ging; drei Fahrpläne der Bahn; Geschäftsbriefe – und eine Benachrichtigung von einem Schneider.
    Ein Schneider! Dorthin war sein Geld also geflossen. Eitler Pfau! Er mußte unbedingt seine Garderobe durchsehen, um festzustellen, was für einen Geschmack er hatte. Laut der Rechnung in seiner Hand einen teuren. Ein Polizeibeamter, der wie ein Gentleman aussehen wollte! Er lachte hart auf; ein Rattenfänger mit Ambitionen – so einer war er also? Eine reichlich lächerliche Figur. Die Vorstellung tat weh, und er schob sie mit Galgenhumor beiseite.
    In den übrigen Schubladen befanden sich Briefumschläge und Briefpapier, alles von bester Qualität – wieder ein Zeichen von Eitelkeit! Wem hatte er geschrieben? Außerdem gab es Siegellack, eine Schnur, ein Papiermesser und eine Schere sowie eine Reihe unwichtiger Gerätschaften zur Arbeitserleichterung. Er mußte sich bis zur zehnten Schublade vorarbeiten, bis er endlich auf die Privatkorrespondenz stieß. Sämtliche Briefe waren in derselben Handschrift verfaßt und stammten, nach der Stellung der Buchstaben zu urteilen, von einem jungen oder gering gebildeten Menschen. Anscheinend schrieb ihm nur eine
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