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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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gar nicht so bald erwartet –« Sie wurde rot. »Das soll natürlich nicht heißen, daß du nicht willkommen bist.« Sie sprach breiten Northumberland-Akzent, was in seinen Ohren ausgesprochen angenehm klang. War auch der Grund hierfür Vertrautheit, oder lag es nur an der wohltuenden Abwechslung nach der harten Londoner Aussprache?
    »William?« Sie schaute ihn eindringlich an. »Komm rein – du mußt ja völlig erschöpft sein. Bestimmt hast du Hunger.« Sie machte Anstalten, ihn ins Haus zu zerren.
    Er folgte ihr lächelnd, plötzlich ungeheuer erleichtert. Sie kannte ihn; anscheinend nahm sie ihm weder sein langes Fernbleiben noch die unbeantworteten Briefe übel. Sie benahm sich so natürlich, daß lange Erklärungen unnötig waren. Und er merkte, daß er tatsächlich sehr hungrig war.
    Die Küche war klein, aber peinlich sauber; das Zentrum bildete ein großer, fast weißer Tisch. In seinem Gedächtnis regte sich nichts. Es duftete anheimelnd nach frischgebackenem Brot, gebratenem Fisch und salziger Seeluft. Zum erstenmal seit er im Krankenhaus aufgewacht war, begann er sich zu entspannen, so daß sich die Knoten in seinem Innern allmählich lockerten.
    Nach und nach, bei Suppe und Brot, erzählte er ihr, was er über den Unfall wußte. Hier und da dichtete er ein Detail hinzu, um überzeugend zu klingen. Sie stand am Herd und rührte im Kochtopf, während sie ihm zuhörte, wärmte dann das Bügeleisen an und machte sich damit über ein paar Kinder Sachen und das weiße Sonntagshemd eines Mannes her. Falls ihr seine Geschichte merkwürdig oder unglaubwürdig erschien, so ließ sie es sich nicht anmerken. Vielleicht war ihr die ganze Londoner Welt ohnehin ein Rätsel, bevölkert von Leuten, die ein unverständliches und für einen normalen Menschen wenig erstrebenswertes Leben führten.
    Die Abenddämmerung senkte sich bereits über den Spätsommertag, als ihr Mann nach Hause kam, ein breiter, blonder Kerl mit wettergegerbtem, freundlichem Gesicht. Seine grauen Augen schienen immer noch in den Anblick der See vertieft zu sein. Er begrüßte Monk mit freundlicher Überraschung, wirkte aber in keiner Weise unangenehm berührt oder in seinem häuslichen Frieden gestört.
    Niemand verlangte Erklärungen von Monk, nicht einmal die drei schüchternen Kinder, die mittlerweile ebenfalls heimgekehrt waren. Es war eine deutliche Distanz zwischen ihnen, wie er sich mit schmerzlicher Ironie eingestand. Offenbar hatte er nie viel von seinem Leben mit dem bißchen Familie geteilt, das er besaß, daß das Ausbleiben wichtiger Informationen aufgefallen wäre.
    Ein Tag nach dem andern verging. Manche waren von goldenem Licht erfüllt, wenn die Sonne heiß vom Himmel brannte, der Wind vom Land kam und der Sand unter seinen Füßen weich und nachgiebig war. Ein andermal drehte der Wind nach Osten und blies mit eisiger Schärfe und fast mit Sturmwindstärke von der Nordsee her über die Küste. Dann spürte Monk, wie er an ihm zerrte, während er am Strand entlanglief; er peitschte ihm ins Gesicht, riß ihn an den Haaren, und das Ausmaß seiner Kraft war furchterregend und trostspendend zugleich. Der Wind hatte nichts Menschliches; er war unpersönlich, richtete ihn nicht.
    Er war nun schon eine Woche hier und spürte die alten Lebensgeister allmählich zurückkehren, als eines Abends Alarm gegeben wurde. Es war fast Mitternacht, der Wind fegte heulend um die steinernen Häuserecken, als das Geschrei und das Hämmern gegen die Tür begann.
    Rob Bannerman war binnen weniger Minuten auf den Beinen; man konnte beinah glauben, er würde Öljacke und Gummistiefel selbst im Bett nicht ausziehen. Monk stand ratlos und vollkommen durcheinander auf dem Treppenabsatz herum; er konnte sich den plötzlichen Aufruhr im ersten Moment nicht erklären. Erst als er Beths Gesicht sah, ihr zum Fenster folgte und die tanzenden Laternen und die von deren Lichtschein geisterhaft beleuchteten Gestalten mit dem in Regen glänzenden Öl Jacken erblickte, wußte er, was los war. Instinktiv legte er seine Arme um Beth. Sie rückte kaum merklich näher an ihn heran, aber ihr Körper blieb steif. Mit gepreßter Stimme, in der Tränen mitschwangen, murmelte sie ein Gebet vor sich hin.
    Rob war bereits aus dem Haus. Er hatte zu keinem von ihnen ein Wort gesagt, war nicht einmal stehengeblieben, als er hinter Beth vorbeilief und kurz ihre Hand drückte.
    Der Grund für den Tumult war ein Wrack, irgendein Schiff, das der brüllende Wind auf die ausgestreckten
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