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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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oder nicht. Am frühen Morgen schrieb er ihr einen kurzen Brief, in dem lediglich stand, er habe einen Unfall gehabt, sich mittlerweile einigermaßen erholt und trage sich mit dem Gedanken, ihr einen Besuch abzustatten, wenn er sich für die Reise fit genug fühle, was seiner Ansicht nach nicht mehr länger als ein oder zwei Tage dauern könne.
    Unter den restlichen Dingen in den Schreibtischschubladen entdeckte er auch einen bescheidenen Geldvorrat. Abgesehen von seiner Vorliebe für exklusive Mode – sämtliche Stücke in seinem Kleiderschrank waren ausgezeichnet geschnitten und aus erstklassigem Stoff und der Büchersammlung, sofern sie ihm gehörte, war er offenbar nicht besonders verschwenderisch veranlagt. Andernfalls mußte er regelmäßig gespart haben, doch er fand keine Notiz, die darauf hinwies, außerdem spielte das momentan keine Rolle. Er zahlte Mrs. Worley die Miete für den nächsten Monat im voraus abzüglich des Betrages für das Essen, das er während seiner Abwesenheit nicht verbrauchen würde – und teilte ihr mit, er würde nach Northumberland fahren, um seine Schwester zu besuchen.
    »Gute Idee.« Sie nickte weise mit dem Kopf. »Hätten Se schon viel öfter machen sollen, wenn Se mich fragen. Nich, daß Sie’s überhaupt mal getan hätten! Ich bin bestimmt niemand, der sich überall einmischt«, sie schnappte geräuschvoll nach Luft, »aber Sie waren die ganze Zeit, die ich Sie kenn, nich einmal dort, und das is jetzt schon ’n paar Jahre her. Dabei schreibt Ihnen das arme Ding regelmäßig – obwohl ich den Verdacht hab, daß sie noch nie ’ne Antwort gekriegt hat!«
    Sie verstaute das Geld in ihrer Rocktasche und sah ihn scharf an.
    »Na, dann passen Se mal gut auf sich auf – futtern Se ordentlich, und lassen Se die blöden Eskapaden, hinter irgendwelchen Halunken herzujagen. Lassen Sie die mal ’ne Zeitlang in Ruh und kümmern Se sich um sich selbst!« Mit diesem gutgemeinten Rat zum Abschied strich sie ihre Schürze glatt, drehte sich um und marschierte mit klappernden Absätzen den Gang Richtung Küche hinunter.
    Man schrieb den vierten August, als er sich in London in den Zug setzte und es sich für die lange Fahrt bequem machte.
    Northumberland entpuppte sich als unendlich weit und trostlos, der Wind fegte über baumlose, dunkle Heidemoore, aber der stürmische Himmel und die klar umrissene Landschaft hatten etwas Schlichtes, das ihm ausgesprochen gut gefiel. War sie ihm vertraut, rief sie Kindheitserinnerungen wach, oder war es nur die Schönheit der Gegend, die solche Gefühle in ihm weckte, auch wenn sie ihm unbekannt war wie ein Plateau auf dem Mond? Er blieb lange Zeit vor dem Bahnhofstehen, den Koffer in der Hand, und starrte auf die Hügel hinaus, ehe er sich endlich in Bewegung setzte. Er mußte irgendein Gefährt auftreiben, denn das Meer und das Dörfchen, zu dem er wollte, lagen siebzehn Kilometer weit entfernt. Im Normalzustand hätte er diese Strecke leicht zu Fuß bewältigt, aber er fühlte sich immer noch schwach. Wenn er tief Luft holte, schmerzte seine Rippe, und der Arm war längst nicht voll einsatzfähig.
    Es war nur ein Ponykarren, und er hatte königlich dafür bezahlt, aber er war froh, daß der Fahrer ihn und seinen Koffer direkt vor der Haustür in der schmalen Gasse absetzte, nachdem er ihm Namen und Adresse seiner Schwester genannt hatte. Während die Räder über das Kopfsteinpflaster von dannen holperten, bezwang er seine dunklen Ahnungen und das Gefühl, einen unwiderruflichen Schritt zu tun, und klopfte laut an.
    Er wollte eben zum zweitenmal klopfen, als die Tür aufschwang und eine hübsche Frau mit frischem Gesicht auf der Schwelle erschien. Sie war gerade noch an der Grenze zum Molligsein, hatte dichtes, dunkles Haar und Gesichtszüge, die seinen lediglich durch die breite Stirn und die Form der Wangenknochen ähnelten. Ihre Augen waren blau, die Nase war zwar ebenfalls breit, dafür ohne jede Spur von Arroganz, der Mund wesentlich weicher. All das schoß ihm simultan mit der Erkenntnis durch den Kopf, daß dies Beth sein mußte, seine Schwester. Sie würde es nicht verstehen und wahrscheinlich gekränkt sein, wenn er nicht so tat, als kenne er sie.
    »Beth.« Er streckte ihr die Hände entgegen.
    Ihr Gesicht verzog sich zu einem breiten, erfreuten Lächeln.
    »William! Mein Gott, hast du dich verändert, ich hätte dich fast nicht erkannt! Wir haben deinen Brief bekommen. Ein Unfall, schreibst du – bist du schlimm verletzt? Wir haben dich
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