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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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jagen.« Sie drehte sich um und musterte ihn wieder. »Meine Güte, Sie sehen richtig krank aus. Sie gehen jetzt sofort da rein und setzen sich hin, und ich bring Ihnen gleich ’ne feine heiße Mahlzeit und was zu trinken. Wird Ihnen guttun.« Sie schnaubte und strich mit grimmiger Vehemenz ihre Schürze glatt. »Hab schon immer gesagt, daß man in diesen Krankenhäusern nicht ordentlich versorgt wird. Wetten, daß die Hälfte von denen, die da drin sterben, vor lauter Hunger verrecken?« Jeder Muskel unter dem schwarzen Taft schien vor Empörung zu zucken, als sie mit diesen Worten aus dem Raum rauschte. Die Tür ließ sie weit offen stehen.
    Monk machte sie zu, dann drehte er sich um und betrachtete das Zimmer. Es war groß, dunkelbraun getäfelt und grün tapeziert. In der Mitte stand ein schwerer Eichentisch mit vier dazu passenden Stühlen, beides aus der Zeit Jacobs I., mit geschnitzten Beinen und gedrechselten Klauenfüßen. Die Anrichte an der gegenüberliegenden Wand stammte offenbar aus derselben Zeit, er fragte sich allerdings, welchen Zweck sie erfüllen mochte. Sie enthielt weder Porzellan noch Besteck. Lediglich in den untersten Schubladen entdeckte er frisch gewaschene Tischdecken und Servietten, die sich allesamt eines ausgezeichneten Zustandes erfreuten. Ansonsten gab es noch einen Eichensekretär mit zwei kleinen, flachen Schubladen und an der Wand neben der Tür ein recht hübsches, randvolles Bücherregal. Waren die Bücher Bestandteil des Mobiliars, oder gehörten sie ihm? Er würde sich die Titel später ansehen.
    Die Fenster waren mit Plüschvorhängen von sattgrüner Farbe versehen, die eher um die Scheiben herumdrapiert als vor ihnen aufgehängt waren. An den reichverzierten Armen der Wandleuchter fehlte hier und da ein Stück. Der Ledersessel hatte verblichene Flecken auf den Lehnen, der Flor des Sitzkissens war abgenutzt. Die Farben des Teppichs bestanden aus längst verblichenem Pflaumenblau, Marineblau und Waldgrün – was sein Auge als überaus angenehm empfand. An den Wänden hingen einige Bilder, die etwas Schwülstiges ausstrahlten, über dem Kaminsims thronte ein Spruchband mit der furchtbaren Drohung DER HERR SIEHT ALLES.
    Gehörten diese Dinge ihm? Bestimmt nicht. Schauer jagten ihm über den Rücken, und er erwischte sich dabei, daß er angesichts der rührseligen Gegenstände das Gesicht verzog, ja sogar einen Anflug von Verachtung empfand.
    Es war ein gemütliches, wohnliches Zimmer, nur eigenartig unpersönlich, ohne Fotografien oder Andenken, ohne Spuren seines eigenen Geschmacks. Seine Augen glitten wieder und wieder über die Einrichtung, doch nichts war ihm vertraut, nichts rief auch nur im entferntesten eine Erinnerung in ihm wach.
    Er versuchte es mit dem angrenzenden Schlafraum – genau das gleiche: gemütlich, alt, schäbig. In der Mitte stand ein breites Bett. Es war mit einem frischen Laken bezogen, zudem mit einer adretten, weißen Nackenrolle und einem weinfarbenen Federbett ausgestattet, dessen Seitenränder Rüschen zierten. Auf dem massiven Waschtisch standen eine recht ansehnliche Waschschüssel aus Porzellan sowie ein Wasserkrug, auf der hohen Schlafzimmerkommode lag eine entzückende Haarbürste mit echtem Silberrücken.
    Er strich über die Möbel – seine Finger blieben sauber. Mrs. Worley war eine gute Hausfrau.
    Er wollte gerade die Schubladen herausziehen und sich weiter umsehen, da klopfte es energisch an die äußere Tür, und Mrs. Worley rauschte herein. Sie trug ein Tablett mit einem dampfenden Teller, randvoll mit Fleischpastete, gekochtem Kohl, Erbsen und Mohren nebst einem Schälchen Pudding in Vanillesoße.
    »So, das hätten wir!« sagte sie zufrieden und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. Erleichtert registrierte er, daß auch Messer, Löffel, Gabel und ein Glas Apfelwein vorhanden waren.
    »Essen Sie erst mal, dann fühlen Sie sich bestimmt besser.«
    »Vielen Dank, Mrs. Worley.« Seine Dankbarkeit war nicht gespielt; er hatte nichts Ordentliches mehr zwischen die Zähne bekommen seit…?
    »Ich tu nur meine Christenpflicht, Mr. Monk«, wehrte sie mit leichtem Kopfschütteln ab. »Und Sie haben immer pünktlich bezahlt. Ja, mit Ihnen hat’s deshalb noch nie Streit gegeben, Sie sind nich mal einen Tag zu spät dran gewesen oder sonst irgendwas. Jetzt essen Se das auf, und dann legen Se sich ’n bißchen aufs Ohr. Sie sehen total erledigt aus! Ich weiß nich, was Se getrieben haben, und ich will’s auch gar nicht wissen. Zuviel Neugier
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