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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden
Autoren: Anne Perry
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Flüssigkeit hatte in Greys Augen gebrannt, aber in erster Linie war es sein Stolz gewesen, der unerträglich verletzt war. Er war ein Mann von Stand, der sich durch die späte Geburt seines Vermögens beraubt sah, und nun kam dieser Lümmel von Polizist daher, erdreistete sich über alle Maßen und beleidigte ihn in seiner eigenen Wohnung! Seine hübschen Züge waren zu einem häßlichen Zähnefletschen entartet, dann hatte er seinen Stock gepackt und Monk damit einen Schlag auf die Schulter versetzt. Das Ziel war der Kopf gewesen, doch Monk hatte den Hieb vorausgeahnt und war rechtzeitig ausgewichen.
    Sie waren unter dem Vorwand, sich verteidigen zu müssen, aufeinander losgegangen, aber es hatte weitaus mehr dahintergesteckt. Monk war die Gelegenheit willkommen gewesen; er hatte so lang auf dieses Gesicht einschlagen wollen, bis das lüsterne Grinsen zertrümmert war – bis alles, was dieser Mann gesagt und über Imogen gedacht hatte, vernichtet, bis wenigstens ein Teil des Leids, das er ihrer Familie zugefügt hatte, wettgemacht war. In erster Linie aber wollte er ihm austreiben, jemals wieder aus der Leichtgläubigkeit und Trauer unschuldiger Menschen Profit zu schlagen, ihnen anhand von Lügen Schuldgefühle einzureden und den Toten das einzige zu nehmen, was sie zurückließen – die Erinnerung, wie sie gewesen waren und wie man sie geliebt hatte.
    Grey hatte sich gewehrt, für einen Mann, der als Invalide aus dem Heer entlassen worden war, mit erstaunlichen Kräften. Sie hatten ineinander verschlungen um den Stock gekämpft, waren gegen Möbelstücke geprallt, hatten Stühle umgeworfen. Die rücksichtslose Gewalt war eine Katharsis gewesen, und all die herausbrechenden, aufgestauten Gefühle ließen ihn keinerlei Schmerz empfinden, nicht einmal in dem Moment, als Grey ihm einen fürchterlichen Hieb mit dem Stock auf die Rippen versetzte.
    Doch Monks Körpergewicht und Stärke hatten den Ausschlag gegeben. Vielleicht lag es auch daran, daß sein Zorn größer gewesen war als Greys Angst und dessen stille Verbitterung über die langen Jahre, die er sich übergangen und nicht genügend anerkannt gefühlt hatte.
    Monk erinnerte sich genau an den Augenblick, als er den schweren Stock aus Greys Hand entwunden und damit auf ihn einzuschlagen begonnen hatte, um zu zerstören, wogegen das Gesetz anscheinend machtlos war.
    Und dann hatte er unvermittelt innegehalten, nach Luft ringend und über sich selbst zutiefst entsetzt. Grey lag fluchend wie ein Stallknecht auf dem Boden.
    Er hatte sich umgedreht, war aus der Wohnung gestürzt und die Treppe hinuntergestolpert, hatte auf dem Weg nach unten den Mantelkragen hochgeschlagen und sich den Schal über das Gesicht gezogen, um die Verletzungen zu verbergen. Als er unten in der Halle an Grimwade vorbeigekommen war, hatte das plötzliche Schrillen einer Glocke den Portier veranlaßt, seinen Posten zu verlassen.
    Draußen hatte ein fürchterlicher Sturm getobt. Beinah wäre er von einem Windstoß ins Haus zurückgedrängt worden, als er die Tür öffnete. Er hatte den Kopf gesenkt und sich in den Regen gestürzt, der ihm eisig ins Gesicht schlug, dann hatte er sich, mit dem Rücken zum Licht, von Laterne zu Laterne durch die Dunkelheit geschlichen.
    Ein Mann war ihm entgegengekommen, hatte sich dem erleuchteten Haus und der vom Wind aufgedrückten Tür genähert – so daß er einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht hatte erhaschen können, ehe er in der hellen Öffnung verschwand. Es war Menard Grey.
    Plötzlich ergab alles einen Sinn. Es war nicht George Latterlys Tod, beziehungsweise dessen Mißbrauch, gewesen, der Joscelin Greys Mörder getrieben hatte, sondern Edward Dawlishs – und Joscelins Verrat an jedem Ideal, das seinem Bruder wichtig gewesen war.
    Das Hochgefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war; die Erleichterung löste sich auf und machte einer ungeheuren Kälte Platz. Wie sollte er das beweisen? Sein Wort stand gegen das von Menard. Grimwade war nach dem Läuten der Glocke im Haus verschwunden und hatte nichts gesehen. Als er aus Greys Wohnung geflohen war, hatte er die Tür in seiner Erregung offenstehen lassen, so daß Menard nur noch einzutreten brauchte. Es gab keinen Beweis, nichts Handgreifliches, lediglich seine Erinnerung an Menards Gesicht, das kurz im Gaslicht vor ihm aufgetaucht war.
    Man würde ihn hängen. Er stellte sich die Gerichtsverhandlung vor, malte sich aus, wie er vor der Anklagebank stand und zur allgemeinen Erheiterung zu
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