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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen
Autoren: Jeffery Deaver
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uns einholen.«
    Doch der Geist sah ihn ungerührt an. »Sie werden jetzt Folgendes tun. Die Brückenbesatzung bleibt an ihrem Platz, aber Sie und der Rest der Mannschaft begeben sich nach unten zu den Ferkeln. Verstecken Sie sich dort, und sorgen Sie dafür, dass auch alle anderen im Laderaum sich irgendein Schlupfloch suchen.«
    »Aber warum?«
    »Weil Sie ein guter Mensch sind«, erklärte der Geist. »Zu gut, um zu lügen. Ich werde vorgeben, der Kapitän zu sein, denn ich kann einem Mann ins Gesicht sehen, und er wird mir glauben, was ich ihm erzähle. Sie können das nicht.«
    Der Geist nahm Sen die Mütze ab. Im ersten Moment wollte der Kapitän danach greifen, aber dann ließ er die Hand wieder sinken. Der Geist setzte die Mütze auf. »So«, sagte er ernst. »Sehe ich wie ein Kapitän aus? Ich schätze, ich gebe einen recht guten Kapitän ab.«
    »Die Dragon ist mein Schiff.«
    »Nein«, widersprach der Geist. »Auf dieser Reise ist sie mein Schiff. Immerhin zahle ich bar und in Grün.« Amerikanische Dollars waren sehr viel wertvoller und vielseitiger einsetzbar als die chinesischen Yuan, mit denen die meisten der niederen Schlangenköpfe zu bezahlen pflegten.
    »Sie wollen sie doch nicht etwa angreifen, oder? Die Küstenwache, meine ich.«
    Der Geist lachte ungehalten auf. »Wie sollte ich das wohl bewerkstelligen? Es dürften mehrere Dutzend Männer sein.« Er nickte in Richtung der Matrosen auf der Brücke. »Weisen Sie Ihre Leute an, meine Befehle zu befolgen.« Als Sen zögerte, beugte der Geist sich vor und fixierte ihn mit einem ruhigen, aber eiskalten Blick, der praktisch nie seine einschüchternde Wirkung verfehlte. »Möchten Sie mir noch etwas sagen?«
    Sen senkte den Kopf und kehrte dann auf die Brücke zurück, um seine Männer zu instruieren.
    Der Geist wandte sich wieder dem Heck der Dragon zu und hielt abermals nach seinem Gehilfen Ausschau. Dann zog er sich die Mütze tiefer ins Gesicht und betrat die Brücke, um auf dem schlingernden Schiff das Kommando zu übernehmen.
    Bei den zehn Richtern der Hölle...
    Der Mann kroch auf dem Oberdeck zum Achterschiff, steckte den Kopf über die Reling der Fuzhou Dragon und fing erneut an zu würgen.
    Seit Ausbruch des Sturms hatte er die ganze Nacht neben einem der Rettungsboote gelegen und war nun dem stinkenden Laderaum entflohen, um seinen Körper von der Disharmonie zu befreien, die durch die wogende See hervorgerufen wurde.
    Bei den zehn Richtern der Hölle, schoss es ihm ein weiteres Mal durch den Kopf. Das ständige Schaukeln ließ seine Eingeweide revoltieren. Ihm war kalt, und er fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben. Langsam rutschte er an dem rostigen Geländer hinunter und schloss die Augen.
    Er hieß Sonny Li, wenngleich sein Vater ihm einst rücksichtslos den Namen Kangmej gegeben hatte, was übersetzt »Bekämpfe Amerika« bedeutete. Während Maos Regierungszeit war es üblich gewesen, den Kindern solche politisch korrekten - und furchtbar peinlichen - Vornamen zu verpassen. Später aber hatte er es den vielen anderen chinesischen Jugendlichen aus den Küstenprovinzen Fujian und Guangdong gleichgetan und zusätzlich einen westlichen Rufnamen angenommen. Die Jungs in seiner Gang hatten ihm den Namen verliehen: Sonny, nach dem gefährlichen, übellaunigen Sohn von Don Corleone in dem Film Der Pate.
    Wie sein Namensvetter hatte auch Sonny Li viel Gewalt erlebt - und ausgeübt -, aber nichts und niemandem war es je gelungen, ihn buchstäblich so in die Knie zu zwingen wie diese Seekrankheit.
    Bei den Richtern der Hölle ...
    Li war bereit, seine Reise in die Unterwelt anzutreten. Er würde sämtliche Missetaten gestehen, all die Schande, die er seinem Vater bereitet hatte, all die Dummheiten, all den Schmerz. Soll der Gott T'ai-'shan mir ruhig einen Platz in der Hölle zuweisen. Wenn doch nur diese beschissene Übelkeit verschwinden würde! Erschöpft nach zwei Wochen karger Mahlzeiten und verwirrt durch den Schwindel hatte er plötzlich den Eindruck, das Meer sei nur deswegen so in Aufruhr, weil ein gewaltiger Drache sich ungehemmt austobte. Am liebsten hätte Sonny seine schwere Pistole aus der Tasche gezogen und dem Vieh einen Schuss nach dem anderen in den Wanst gejagt.
    Er drehte sich um, schaute zur Brücke des Schiffs und glaubte dort den Geist zu entdecken, aber dann krampfte sich unvermittelt sein Magen zusammen, und Li musste sich wieder über die Reling beugen. Er vergaß den Schlangenkopf, vergaß das gefährliche
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