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Das Gesetz Der Woelfe

Titel: Das Gesetz Der Woelfe
Autoren: Veronika Rusch
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grünschwarze Flecken heraus. Kreisrund und pelzig wie kleine Tierchen. Sie starrte sich im Spiegel an. Ihr Gesicht war aufgedunsen, die Lider dick geschwollen. Blondes Haar hatte sie einmal gehabt, früher, glänzendes, honigfarbenes Haar. Jetzt war es stumpf, hatte die Farbe von abgestandenem Bier und hing ihr dünn und leblos ins Gesicht. Doch das interessierte sie nicht. Schon lange nicht mehr. Sie wollte sich in die Augen sehen. Helle blaue Augen, Erbe der Normannen, hatte ihre Mutter immer gesagt und so rätselhaft dabei gelächelt, dass sie irgendwann anfing zu vermuten, der Normanne sei vermutlich eher ein sehr lebendiger Zeitgenosse aus einem Land jenseits der Alpen gewesen.
    Ihr Sohn hatte ihre Augen nicht geerbt. Bereits bei der Geburt waren sie schwarz wie Kohle gewesen. Caprisi-Augen. Man braucht vermutlich solche Augen, um dort zu überleben, hatte sie einmal gedacht. Augen, genauso tief und dunkel wie die Finsternis, die sie umgab und der sie zu trotzen versuchten. Lass uns weggehen, hatte sie Raffaele immer wieder gebeten, lass uns woanders hingehen, etwas Neues anfangen. Doch er hatte nie gewollt. Nie gekonnt.
    Sie sah sich in die Augen. Wässrig blau. Stumpf wie ihre Haare waren sie geworden, längst nicht mehr wie Sterne, die vom Himmel gefallen waren. Sie waren zu schwach gewesen, diese blassen, blauen, nordischen Augen. Sie war schwach gewesen. Konnte nicht standhalten. Hatte versagt. Hatte ihn im Stich gelassen und … Sie kniff die Lippen zusammen und beobachtete, wie sich nutzlose Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Sie hatte ihren Sohn dort zurückgelassen. In der Finsternis. Eine Träne löste sich und glitt langsam die Wange hinunter zu ihrer Nase, verharrte dort einen Augenblick und rollte weiter zu ihrem Mund. Sie war schwach gewesen. Zu schwach. Ihre Tränen waren heuchlerisch. Kamen zu spät. Sie durfte nicht weinen. Es war nicht erlaubt, es stand ihr nicht zu. Nichts stand ihr mehr zu. Die Tränen kamen trotzdem. Unaufhörlich. Sie flossen wie ein Strom aus ihr heraus, als wollte sie gänzlich zerfließen, hier in dem schimmeligen Badezimmer am Rande der Stadt. Sie musste sich setzen. Das Schluchzen schüttelte ihren mageren Körper in Wellen, es schmerzte, sie holte ächzend Luft wie eine Ertrinkende, hustete Rotz und Schleim und weinte ihren Schmerz heraus wie ein Kind. Als sie wieder zu sich kam, zitterte sie am ganzen Körper, und ihre nackten Füße waren eiskalt. Sie stand mühsam auf und wischte sich mit den Händen das Gesicht ab. In den Spiegel sah sie nicht mehr. Sie ging zurück in das Zimmer, das Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer in einem war. Es hatte keine Heizung, dafür einen Balkon, wie der Vermieter, ein graugesichtiger Wucherer, damals stolz angemerkt hatte: »Vom Balkon können Sie die ganze Stadt überblicken, Signora. Die ganze Stadt!«
    Man sah die Stadt tatsächlich, in der Ferne, aber nur, wenn man sich weit über die Brüstung des winzigen Vorsprungs beugte, den der Vermieter als Balkon bezeichnet hatte. Aber da war sie, die Ewige Stadt, mit ihren orangefarbenen Lichtern, die die ganze Nacht leuchteten und ihren Schein weit in den Himmel hinaufjagten. In den ganzen zehn Jahren, in denen sie jetzt hier wohnte, war sie kein einziges Mal in die Stadt hineingefahren. Anfangs hatte sie warten wollen, bis sie etwas Geld gespart hatte, um sich Schuhe zu kaufen, essen zu gehen. Doch mit der Zeit war die Stadt zunehmend verschwunden in ihrem orangefarbenen Dunst, war verschlungen worden von der Finsternis, der sie hatte entfliehen wollen. Und irgendwann, zu einem Zeitpunkt, als sie auch aufgehört hatte, in den Spiegel zu sehen, war etwas anderes übermächtig geworden, gegen das alles andere verblasste: der Wunsch zurückzukehren. Zu ihm. Und ihrem Sohn. Doch es war ein Wunsch geblieben. Immer gab es etwas, das sie zögern, innehalten, vergessen ließ. Bis heute.
    Spät am Morgen, als sie langsam aus einem Nebel von Wodka und Wein erwacht war, hatte ihr Nachbar, der fette Emilio geklopft. Schüchtern wie immer hatte er an der Tür gestanden, die strähnigen schwarzen Haare über die Stirn gekämmt, und ihr eine Zeitung hingehalten. »DDas ist vvvon dir dahhheim, ggglaub ich«, hatte er gestammelt und ihr die Zeitung in die Hand gedrückt. Dann war er ohne ein weiteres Wort in seiner Wohnung gegenüber verschwunden. Sie hatte nichts begriffen, außer dass ihr Kopf hämmerte und sie kotzen musste. Doch dann fiel ihr Blick auf die Zeitung und auf das Foto auf der
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