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Das Gesetz Der Woelfe

Titel: Das Gesetz Der Woelfe
Autoren: Veronika Rusch
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Titelseite. Die grotesken Überreste von etwas, das einmal ein Auto gewesen war, der unversehrt gebliebene Fahrersitz, die dunklen Flecken, Blut, Glassplitter, eine Brille …
    Die fetten Schlagzeilen sprangen ihr wie Blitze in die Augen, schmerzten hinter ihren Lidern und drangen tief in sie ein. Sie brüllten ihr ins Gesicht und holten allen Schmerz zurück, das Grauen und die Hoffnungslosigkeit.
    Zerfetzt von einer Bombe!
    Sie wusste den Namen, bevor sie ihn unter dem Bild von dem zerstörten Auto las: Raffaele de Caprisi, 36, Journalist.
    Sie war auf ihrem ungemachten Bett sitzen geblieben und hatte zum Fenster hinausgestarrt. Doch sie sah nicht die Hochhäuser, terrakottafarben, eines am anderen, glatt und sauber aus der Ferne, solange man die abgeplatzten Putzplatten und die nassen Stellen, die zugeklebten Fenster und das Gerümpel auf den Balkonen nicht sah. Sie sah andere Dinge: die silbernen Tische der Bar in Reggio di Calabria, wo sie als Kind mit ihrem Vater morgens die Zeitung geholt hatte. Den geharkten Kies vor Raffaeles Haus in San Sebastiano, die alten Olivenbäume. Sie sah die steinernen Augen der Baronessa und Raffaeles lächelnden Mund. Sie sah sich in einem blauen Kleid, lachend, und das Zimmer mit den hohen Fenstern zum Hof, in dem Raffele und sie versucht hatten, glücklich zu sein. Doch sie sah nicht das Kind. Nicht den Säugling, den sie im Arm gehalten hatte, nicht den großen Jungen, der er jetzt sein musste. Das Kind konnte sie nicht sehen.
    Und als die Dämmerung hereinbrach und die Stadt mit ihrem orangefarbenen Schein die Vorstädte aus zweiter Hand bestrahlte, trocknete sie ihre Tränen, diese ersten seit zehn Jahren, und ging hinaus auf ihren Balkon. Ohne einen Blick zurück kletterte sie auf die ausgewaschene Betonbrüstung und sprang sechs Stockwerke in die Tiefe.
    Es war der fette Emilio, der sie fand, die blonde Frau im Nachthemd und mit verrenkten Gliedern, die Zeitung von heute Morgen noch in der Hand.
     

MÜNCHEN
    Clara Niklas starrte die Zweige der Kastanie an, die der Wind an die Scheibe drückte, was ein tickendes Geräusch verursachte. Ihr Blick wanderte durch den Baum hindurch, hinüber zum Fluss, und sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, jetzt einfach dort hinunterzugehen und mit Elise einen langen, sehr langen Spaziergang zu machen. Bis zum Flaucher könnten sie gehen, auch wenn der Biergarten an einem so windigen Frühlingstag wie heute sicher nicht geöffnet hatte. Trotzdem würde sie sich an einen der leeren Biertische setzen, und dort würde sie sitzen bleiben und schauen und warten, bis es Zeit war, wieder heimzugehen. Dann würde sie sich auf die Couch setzen und die Beine hochlegen. Musik hören. Den ganzen restlichen Tag.
    Sie warf einen Blick auf die graue Dogge zu ihren Füßen, die hingebungsvoll an einem Knochen, so groß wie ein menschlicher Oberschenkelknochen, herumkaute. »Wir sollten einen Spaziergang machen, was, Elise?« Elise richtete ihre blutunterlaufenen Augen auf Clara und sah sie einen Augenblick skeptisch an. Doch das Wort Spaziergang schien sie im Augenblick nicht zu locken. Lieber wandte sie sich wieder den wichtigen Dingen des Lebens zu und biss krachend ein Stück von dem Knochen ab.
    Clara seufzte. Es gab keinen Grund, heute nicht in die Kanzlei zu gehen. Keinen wirklichen. Außer vielleicht der Tatsache, dass Sean gestern Abend einen Flieger nach Dublin bestiegen hatte und sie ihn erst zu Weihnachten wiedersehen würde. Sie kratzte mit dem Fingernagel über das weiß gestrichene Fensterbrett, von dem die Farbe in großen Platten abblätterte, und zerkrümelte sie zwischen den Fingern. Ihr Sohn war neunzehn und folglich erwachsen. Und er war nicht allein in Dublin. Er war bei seinem Vater. Doch dieser Umstand beruhigte Clara nicht im Geringsten. Um ehrlich zu sein, war es gerade der Gedanke an Ian, der sie ruhelos wie ein Tiger im Käfig durch die leere Wohnung streifen ließ. Sie mochte nicht an ihn denken. Es waren andere Zeiten gewesen damals, und sie waren lange vorbei. Es war lange vorbei. Und dabei waren es nicht nur die Erinnerungen, die sie beunruhigten. Es war dieses Gefühl des Vergangenen, das Ian symbolisierte, das andere Leben, das sie geführt hatten. Und es war die Angst, Sean an dieses alte, ferne Leben zu verlieren. Ihm nicht beistehen zu können. Und wie jedes Mal, wenn sie sich diese Angst eingestand, und das war recht oft gewesen in den letzten Wochen, seit Sean ihr seinen Entschluss mitgeteilt hatte, spürte sie die
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