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Das Gesetz Der Woelfe

Titel: Das Gesetz Der Woelfe
Autoren: Veronika Rusch
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Bildern, hielten Abstand, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Allein Chiara Settesoli war wieder zu ihm gekommen. Sie hatte ihm nach der Schule ein paar belegte Brote vorbeigebracht und saß jetzt neben ihm auf einem Campinghocker. Sie redeten wenig. Filippos schüchterne Abwehr dem Mädchen gegenüber hatte sich noch nicht gelegt. Er war ihr dankbar dafür, dass sie sich auf seine Seite gestellt hatte, wusste jedoch nicht recht, weshalb sie es tat und was er damit anfangen sollte. Was wäre, wenn die nächste Bombe auf dem Marktplatz explodieren würde? Wenn ihr etwas passierte? Filippo dachte an Dott. Isotti, der noch heute Morgen auf dem Weg zum Friedhof bei ihm vorbeigekommen war. Er sah das alte Gesicht mit den verschmitzten Augen vor sich, die fast hinter den runzeligen Hautfalten verschwanden. Langsam und beschwerlich war er gegangen, wie eine krumme, alte Krähe, schwer auf seinen Stock gestützt. Und dann hatte er seinen Strohhut gezogen vor ihm, vor Filippo, mit ernstem, würdevollem Gesicht, als wäre er ein Monsignore. Und jetzt war er tot. Und er trug Schuld daran. Filippo hatte auch von Mimmo Battaglias Tod heute Nacht gehört.
    Chiara hatte es ihm erzählt und seine Hand genommen, als er sie entsetzt angestarrt hatte. »Du darfst jetzt nicht aufhören«, hatte sie gesagt. »Jetzt gerade nicht.« Und dann hatte sie ihm einen Kuss gegeben. Einen schnellen, schiefen Kuss auf die Wange, aber es hatte ausgereicht, um Filippo erröten zu lassen.
    Die Sonne verschwand langsam hinter den Häusern, die Schatten wurden spitzer, länger, dunkler. Filippo begann, sich Sorgen um seine nonna zu machen. Sie war zusammengebrochen, als man ihr das mit der Grabstelle und Dott. Isotti erzählt hatte, und Filippo hatte den Arzt rufen müssen. Er hatte ihr eine Spritze gegeben, und Filippo hatte sie ins Bett gebracht. Bevor sie einschlief, hatte sie Filippo am Arm gepackt und ihn mit ihren scharfen Augen angesehen: »Du wirst jetzt nicht bei mir am Bett sitzen bleiben, hörst du?« Filippo wollte protestieren, doch die Baronessa hatte den Kopf geschüttelt, sichtlich gegen die einsetzende Wirkung des Schlafmittels ankämpfend: »Was ein de Caprisi anfängt, bringt er auch zu Ende. Also gehst du jetzt da runter und setzt dich hin, hörst du? Ich komme am Abend und bringe dir involtini al sugo .« Dann war sie eingeschlafen.
    Filippo hatte noch lange das alte, müde Gesicht seiner nonna betrachtet, das im Schlaf so gar nichts von der üblichen arroganten Strenge hatte, die sie sonst zur Schau trug. Dann war er aufgestanden und mit seinem motorino wieder hinunter nach San Sebastiano gefahren. Die nonna war jedoch noch nicht gekommen, um ihm die versprochenen involtini zu bringen. Er musste hinauffahren. Der Arzt hatte zwar gemeint, er würde am Nachmittag noch einmal nach ihr sehen, aber das lag nun schon ein paar Stunden zurück. Aber gerade, als er aufbrechen wollte, nervös und überzeugt, es sei etwas passiert, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, wie eine hoch aufgerichtete Gestalt quer über den Platz auf ihn zukam. Die Umstehenden sahen sie auch, und Filippo konnte hören, wie einige »La Baronessa« flüsterten und zur Seite traten, als sie näher kam. Sie ging langsam und war blass, aber sie lächelte, und ihre Augen strahlten die gleiche, strenge Würde aus wie immer. In den Händen hielt sie eine Kasserolle mit Filippos Leibgericht.
     
    Die Menschen kamen nicht zur Ruhe in dieser Nacht. Es schien so, als ob keiner es über sich brächte, nachhause zu gehen, so als ob damit das Eingeständnis einer Schuld verbunden wäre. Die Schuld eines jeden Einzelnen, der dem Rathausplatz den Rücken kehrte, sich umdrehte und ging. Zu oft waren sie nachhause gegangen, als sie hätten bleiben sollen. Zu oft hatten sie die Fenster geschlossen, um nicht zu sehen, was sich direkt vor ihren Augen abspielte. Viele Männer waren gestorben im Laufe der Jahre, niemals war in der Öffentlichkeit darüber gesprochen worden. Man klebte die großen, schwarzumrandeten Trauerplakate an die Hauswände und Strommasten, dort hingen sie, eines über dem anderen, bis der salzige Meerwind und die Sonne die Gesichter darauf verblassen ließen und das Papier in bleichen, trockenen Streifen abzufallen begann. Damit verschwanden die Toten langsam aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit, machten neuen Ereignissen Platz. Nur die Witwen und die Mütter trauerten weiter, aber sie taten es stumm und allein. Hilflos, angsterfüllt. Sie alle hatten noch
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