Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
überraschte. «Meine Mutter ist eine brillante Chirurgin, mein Bruder Priester. Mein Großvater mütterlicherseits war bereits in meinem Alter ein international erfolgreicher Grundstücksmakler. Dagegen bin ich ein Nichts, ein Niemand. Auch bei der Zeitung bin ich erst seit einem halben Jahr. Man sollte die Menschheit vor mir warnen. Aber ich verspreche Ihnen, dass mein Artikel über dieses Haus ganz nach Ihrem Geschmack sein wird.»
    «Unsinn», sagte Marchent. «Ihre Herausgeberin sagt, Ihr Artikel über den Greenleaf-Mord hat zur Festnahme des Täters geführt. Sie sind ein sehr charmanter, bescheidener junger Mann.»
    Reuben wusste nicht, ob er rot wurde. Warum schüttete er dieser Frau sein Herz aus? Sonst war es gar nicht seine Art, Freunde mit Selbstauskünften dieser Art zu bombardieren. Aber dieser Frau fühlte er sich auf unerklärliche Art verbunden.
    «Für den Greenleaf-Artikel habe ich nicht mal einen Tag gebraucht», murmelte er. «Und das meiste, was ich über den Verdächtigen herausgefunden habe, ist nie gedruckt worden.»
    Marchent fragte augenzwinkernd: «Wie alt sind Sie eigentlich, Reuben? Ich bin achtunddreißig.»
    «Das sieht man Ihnen nicht an», sagte Reuben und meinte es so. Am liebsten hätte er gesagt:
Sie sind perfekt
. Tatsächlich sagte er: «Ich bin dreiundzwanzig.»
    «Dreiundzwanzig? Dann sind Sie ja noch fast ein Kind.»
    Klar. «Sonnyboy» nannte ihn ja sogar seine Freundin Celeste. «Kleiner» sagte sein großer Bruder Jim, der Priester. «Mein Baby» war er für seine Mutter, sogar wenn andere Leute dabei waren. Nur sein Vater nannte ihn Reuben, und wenn sie einander in die Augen sahen, hatte Reuben stets das Gefühl, dass sein Vater ihn so sah, wie er wirklich war.
Dad, du solltest dieses Haus sehen! Es gibt keinen besseren Ort zum Schreiben, um seine Ruhe zu haben und sich von der spektakulären Landschaft inspirieren zu lassen.
    Reuben steckte die klammen Hände in die Taschen und versuchte den scharfen Wind zu ignorieren, der ihm Tränen in die Augen trieb. Sie waren auf dem Rückweg und würden sich gleich bei einem Kaffee am Kamin von der Kälte erholen.
    «Aber Sie sind viel zu groß, um noch ein Junge zu sein», sagte Marchent. «Außerdem sind Sie äußerst sensibel, Reuben. Es gehört schon was dazu, dieses gottverlassene Fleckchen Erde trotz dieser Kälte würdigen zu können. Mit dreiundzwanzig war ich am liebsten in New York oder Paris. Die großen Metropolen waren meins.» Sie hielt inne und sah Reuben an. «Was ist? Habe ich Sie beleidigt?»
    «Nein, gar nicht.» Reuben hatte das Gefühl, schon wieder rot zu werden. «Ich rede zu viel über mich. Aber keine Sorge, Marchent, ich verliere den Artikel nicht aus den Augen. Buscheichen, Gräser, feuchte Erde, Farnkraut. Ich registriere alles.»
    «Ich weiß. Nie wieder ist der Geist so aufnahmefähig wie in der Jugend», sagte Marchent. «Wir werden die nächsten zwei Tage miteinander verbringen, da möchte ich direkt sein. Sie schämen sich Ihrer Jugend, nicht wahr? Das ist nicht nötig. Sie sind ein attraktiver Mann, um ehrlich zu sein: der attraktivste, den ich je gesehen habe. Nein, nein, das meine ich ernst. Wer so aussieht, hat keinen Grund, schüchtern zu sein.»
    Reuben schüttelte den Kopf. Marchent wusste ja nicht, was sie da sagte. Er hasste es, als attraktiv, hinreißend oder süß bezeichnet zu werden. «Was, wenn die Leute das nicht mehr sagen? Meinst du, dann fühlst du dich besser?», hatte Celeste einmal gefragt. «Hast du darüber schon mal nachgedacht? Was mich betrifft, Sonnyboy, wäre ich nicht mit dir zusammen, wenn du nicht so gut aussähst.» Es sollte ein Scherz sein, aber Celestes Scherze hatten oft einen bitteren Beigeschmack.
    «Jetzt habe ich Sie doch beleidigt», sagte Marchent. «Bitte verzeihen Sie mir. Ich glaube, alle Normalsterblichen glorifizieren Menschen, die so gut aussehen wie Sie. Aber das Wesentliche an Ihnen ist, dass Sie ein Poet sind.»
    Als sie die gepflasterte Terrasse erreichten, wurde es kühler. Der Wind hatte jetzt etwas Schneidendes, und die Sonne sank hinter silbernen Wolken langsam ins Meer.
    Marchent blieb kurz stehen und schien um Atem zu ringen, aber Reuben war sich nicht sicher, ob das der Grund für ihr Zögern war. Der Wind ließ ihr Haar flattern, und sie legte die Hand schützend an die Stirn. Dann hob sie den Kopf und blickte zum obersten Fenster hinauf, als suchte sie dort etwas. Plötzlich kam sich Reuben wie das verlorenste Wesen der Welt vor, und ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher