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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
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der Ostseite des Hauses kamen ihm völlig überdimensioniert vor.
    «Was denken Sie gerade?», fragte Marchent.
    «Oh, nichts Besonderes. Ich habe gerade zu den Redwoodbäumen hinübergesehen. Sie lösen in mir immer ganz merkwürdige Gefühle aus. Neben ihnen wird alles andere so klein. Als würden sie sagen: ‹Wir waren schon da, bevor der erste Mensch hier an Land ging, und wir werden immer noch hier sein, wenn ihr und eure Häuser längst verschwunden seid.›»
    Marchent lächelte, aber sie sah traurig aus, als sie sagte: «Das stimmt. Mein Onkel Felix hat diese Bäume sehr geliebt. Er hat dafür gesorgt, dass sie nicht gefällt werden dürfen.»
    «Gott sei Dank», murmelte Reuben. «Es läuft mir immer kalt den Rücken herunter, wenn ich alte Fotos sehe, auf denen Holzfäller in den Redwoodwäldern arbeiten und tausend Jahre alte Baumriesen vernichten. Stellen Sie sich das bloß mal vor: tausend Jahre!»
    «Genau das hat Onkel Felix auch gesagt, fast wörtlich.»
    «Er würde auch nicht wollen, dass das Haus abgerissen wird, nicht wahr?» Sofort bereute Reuben, was er gesagt hatte. «Entschuldigen Sie bitte. Das hätte ich nicht sagen sollen.»
    «Aber Sie haben absolut recht. Das hätte er ganz sicher nicht gewollt. Er hat dieses Haus sehr geliebt. Er hatte gerade angefangen, es zu renovieren, als er verschwand.»
    Mit einem merkwürdig sehnsüchtigen Blick wandte Marchent sich ab.
    «Wir werden wohl nie erfahren, was passiert ist», sagte sie seufzend.
    «Was meinen Sie damit, Marchent?»
    «Nun ja … wie mein Onkel verschwunden ist.» Sie lachte bitter auf. «So ein Unsinn! Verschwunden! Wahrscheinlich ist er völlig zu Recht für tot erklärt worden. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde ich ihn verraten, wenn ich das Haus verkaufe oder Dinge sage wie: ‹Wir wissen nicht, was passiert ist, aber er wird ganz gewiss nie wieder durch diese Tür gehen.›»
    «Verstehe», sagte Reuben leise. Er hatte keinerlei Gefühl für den Tod und konnte sich darunter nichts vorstellen. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und seine Freundin hatten ihm das oft vorgehalten. Seine Mutter war die gute Seele der Abteilung für Traumapatienten am General Hospital von San Francisco, und seine Freundin kannte die dunkle Seite der Menschen von ihrer Arbeit als Staatsanwältin, während sein Vater den Tod sogar in fallendem Laub sah.
    Er selbst hatte sechs Artikel über zwei Mordfälle geschrieben, und beide Frauen seines Lebens hatten diese Artikel erst in den Himmel gelobt und ihm dann Vorträge darüber gehalten, was er alles nicht begriffen hatte.
    Eine Bemerkung seines Vaters kam ihm in den Sinn. «Du bist ziemlich naiv, Reuben, aber das Leben wird dich früh genug lehren, was du wissen musst.» Er sagte oft ungewöhnliche Dinge. Erst am Vortag hatte er beim Essen gesagt: «Es vergeht kein Tag, an dem ich keine universelle Frage stelle. Was ist der Sinn des Lebens? Hat es überhaupt einen? Oder ist alles nur Schall und Rauch? Sind wir alle verdammt?»
    Und später hatte Celeste gesagt: «Ich weiß, warum nichts wirklich zu dir durchdringt, Sonnyboy. Deine Mutter schildert ihre Operationen in allen unappetitlichen Einzelheiten, während sie einen Krabbencocktail löffelt, und dein Vater spricht nur von absolut bedeutungslosen Dingen. Ich wünschte, ich könnte das so locker nehmen wie du. Jedenfalls ist es ein gutes Gefühl, dich an meiner Seite zu haben.»
    Aber war es auch für ihn ein gutes Gefühl? Nein. Kein bisschen. Trotzdem musste man Celeste zugutehalten, dass sie viel liebenswürdiger und netter war, als man meinen könnte, wenn man sie nur reden hörte. Sie war eine knallharte Staatsanwältin, ein Meter sechsundfünfzig pures Dynamit, aber wenn sie mit ihm zusammen war, war sie anschmiegsam und einfach nur süß. Sie achtete darauf, wie er sich kleidete, und rief stets zurück, wenn er sie mal nicht erreichen konnte. Wenn er fachliche Fragen hatte, die sie nicht selbst beantworten konnte, setzte sie ihn umgehend mit kompetenten Kollegen in Verbindung. Trotzdem war ihre Art zu reden oft harsch und zynisch.
    Plötzlich hatte Reuben das Gefühl, dass das Haus etwas Düsteres, Tragisches ausstrahlte, und er wollte dahinterkommen, was es war, denn in erster Linie erinnerte es ihn an Cellomusik, tiefe, volltönende, etwas raue und vor allem klare Cellomusik. Es war, als spräche das Haus zu ihm – oder als würde es das tun, sobald er aufhörte, die Stimmen von zu Hause im Ohr zu haben.
    Sein Handy vibrierte in
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