Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
wurde schmerzhaft bewusst, wie abgeschieden und einsam dieser Ort war.
    Das nächste Dorf, Nideck, war Kilometer entfernt, und wenn es hochkam, wohnten dort vielleicht zweihundert Menschen. Auf der Fahrt hatte er dort angehalten, aber die meisten Läden an der Hauptstraße waren geschlossen gewesen. Die einzige Pension stand zum Verkauf, und zwar schon «seit Ewigkeiten», wie der Tankwart sagte, aber Reuben solle sich keine Sorgen machen, es gebe hier kein Funkloch, Internet und Handys funktionierten hier einwandfrei.
    Trotzdem kam ihm die Welt jenseits der windigen Terrasse in diesem Moment ganz unwirklich vor.
    «Spukt es hier?», fragte er und folgte Marchents Blick zu dem obersten Fenster. «Sehen Sie Gespenster?»
    «Dieses Haus braucht keine», sagte sie. «Die Zeiten sind so schon finster genug.»
    «Es ist einfach ein wunderbares Haus», sagte Reuben. «Die Nidecks hatten einen ausgezeichneten Geschmack. Ich bin mir ganz sicher, dass Sie einen Käufer mit einer romantischen Ader finden, der es beispielsweise in ein einzigartiges, unvergessliches Hotel umfunktioniert.»
    «Eine gute Idee. Andererseits: Warum sollte jemand ausgerechnet hier Urlaub machen? Der Strand ist nur ein schmaler Streifen und schwer zu erreichen. Die Redwoodbäume sind phantastisch, aber wer aus der Gegend von San Francisco nimmt eine Fahrt von vier Stunden auf sich, um Redwoodbäume zu sehen? Das kann man in Kalifornien einfacher haben. Und das Dorf haben Sie ja selber gesehen. Bei Licht betrachtet, gibt es hier weit und breit nichts als Kap Nideck, wie Sie es nennen. Manchmal habe ich Angst, dass selbst dieses Haus nicht mehr lange stehen wird.»
    «Das dürfen Sie nicht sagen! Nicht mal denken. Wer würde denn so ein wunderbares Haus niederreißen?»
    Marchent nahm seinen Arm, und sie gingen über den sandigen Plattenweg an Reubens Wagen vorbei zur Tür auf der anderen Seite des Hauses. «Wenn Sie in meinem Alter wären, würde ich mich in Sie verlieben», sagte sie. «Hätte ich früher einen so charmanten Mann kennengelernt, würde ich heute bestimmt nicht allein leben.»
    «Warum eine Frau wie Sie allein lebt, kann ich nicht verstehen», sagte Reuben. Sie war die anmutigste und selbstsicherste Frau, die er kannte. Selbst nach ihrem Streifzug durch die Wildnis sah sie noch so elegant aus, als machte sie einen Einkaufsbummel am Rodeo Drive. Am linken Handgelenk trug sie ein schmales Perlenarmband, das ihren lässigen Bewegungen zusätzlichen Glanz verlieh, obwohl Reuben nicht genau sagen konnte, wie dieser Effekt zustande kam.
    Nach Westen hin war das Gelände baumlos, daher war es nur zu verständlich, warum man den Blick in diese Richtung frei gehalten hatte. Inzwischen toste der Wind übers Meer, und grauer Nebel senkte sich über den Pazifik.
Ich muss mich mit der Atmosphäre vertraut machen
, dachte Reuben.
Dazu gehört auch so eine Düsternis wie jetzt gerade.
Es war, als fiele ein Schatten auf seine Seele, aber es war ein durchaus angenehmes Gefühl.
    Er wollte dieses Haus haben, sein Leben an diesem Ort verbringen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Zeitung hätte einen anderen Reporter hergeschickt, aber man hatte sich nun mal für ihn entschieden. Da hatte er wirklich Glück gehabt.
    «Mein Gott, es wird ja beinahe sekündlich kälter», sagte Marchent, und beide beschleunigten ihre Schritte. «Ich hatte ganz vergessen, wie schnell das hier an der Küste geht. Obwohl ich damit aufgewachsen bin, überrascht es mich immer noch.» Doch dann blieb sie noch einmal stehen, um an der Fassade hochzusehen. Wieder sah es so aus, als suchte sie etwas oder jemanden. Dann legte sie wieder die Hand an die Stirn und blickte in den heraufziehenden Nebel.
    Bestimmt würde sie es eines Tages bereuen, dass sie sich entschlossen hatte, das Haus zu verkaufen, dachte Reuben. Doch es schien nötig zu sein. Und schließlich hatte er nicht über ihre Gefühle zu entscheiden.
    Trotzdem war es ihm peinlich, dass er genug Geld hatte, um das Haus zu kaufen, und er hatte das Gefühl, dass er ausdrücklich erklären sollte, warum er kein Gebot abgab. Aber das wäre einfach zu unhöflich gewesen. Und abgesehen davon war er in Gedanken immer noch am Kalkulieren und Phantasieren.
    Die Wolken wurden dichter und dunkler, und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Wieder folgte Reuben Marchents Blick die mittlerweile ganz im Dunkeln liegende Hausfassade hinauf. Die rautenförmigen bleiverglasten Fenster glänzten, und die gigantischen Redwoodbäume hinter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher