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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
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oder New York stammte, aber er hatte etwas Kultiviertes, Weltgewandtes und verlieh allem, was sie sagte, Würde und Leichtigkeit zugleich.
    «Ich weiß, wie schön dieses Haus ist», sagte sie. «An der gesamten kalifornischen Küste gibt es keins, das es mit ihm aufnehmen könnte. Aber ich muss es verkaufen, mir bleibt nichts anderes übrig. Wenn es so weit kommt, dass ein Haus von einem Besitz ergreift, muss man es loslassen und sich wieder um Dinge kümmern, die man vernachlässigt hat.» Sie sagte, sie wolle wieder reisen, und gab zu, dass sie seit Onkel Felix’ Verschwinden nicht besonders viel Zeit in dem Haus verbracht hatte. Sobald es verkauft war, wollte sie nach Südamerika gehen.
    «Was für ein Jammer», sagte Reuben und wusste, dass ein Reporter nichts derart Persönliches sagen sollte, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Außerdem verlangte ja niemand von ihm, kalt wie ein Fisch zu sein. «Dieses Haus ist einzigartig, Marchent», sagte er. «Ich werde ihm mit meinem Artikel ein Denkmal setzen und hoffe, dass Sie auf diese Weise schnell einen Käufer finden.»
    Was er meinte, war:
Ich wünschte, ich könnte dieses Haus selber kaufen
. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, seit er das Haus zum ersten Mal durch die Bäume schimmern gesehen hatte.
    «Ich bin ja so froh, dass die Zeitung ausgerechnet Sie geschickt hat», sagte Marchent. «Sie sind begeisterungsfähig, und das ist mir wichtig.»
    Reuben dachte:
Ja, ich bin begeisterungsfähig, und ich will dieses Haus haben. Warum auch nicht? So eine Chance bekomme ich nie wieder.
Doch dann dachte er an seine Mutter und Celeste, seine Freundin, den aufgehenden Stern der Bezirksstaatsanwaltschaft, und sah förmlich vor sich, wie sie über diese verrückte Idee lachten.
    «Was haben Sie denn plötzlich, Reuben?», fragte Marchent. «Sie schauen auf einmal so merkwürdig drein.»
    «Ach, ich hab nur gerade nachgedacht», sagte er und tippte sich an die Schläfe. «In Gedanken schreibe ich schon an meinem Artikel. ‹Architektonisches Juwel an der Küste von Mendocino, seit seiner Erbauung zum ersten Mal auf dem Markt.›»
    «Klingt gut.» Selbst so kurze Bemerkungen klangen in Marchents eigenartigem Akzent weltläufig.
    «Ich würde dem Haus einen Namen geben, wenn es meins wäre», sagte Reuben. «Einen, der seinen Charakter zum Ausdruck bringt. Kap Nideck oder so.»
    «An Ihnen ist ein Dichter verloren gegangen», sagte Marchent. «Das merkt man gleich. Ich mag Ihre Artikel, ich habe einige gelesen. Sie haben einen ganz eigenen Ton. Aber momentan arbeiten Sie an einem Roman, nicht wahr? Ein talentierter Reporter in Ihrem Alter sollte sich der Literatur zuwenden. Es wäre schade, wenn Sie es nicht täten.»
    «Das ist Musik in meinen Ohren», sagte Reuben gerührt und sah Marchent überrascht an. Sie war wunderschön, und wenn sie lächelte, schienen die feinen Linien ihres Gesichts zu sprechen. «Erst letzte Woche hat mein Vater gesagt, dass ein junger Mann wie ich noch nichts zu erzählen hat – und zu sagen schon gar nichts. Er war Professor und ist mittlerweile ziemlich ausgebrannt. Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren überarbeitet er seine ‹Gesammelten Gedichte›.» Kaum hatte er das gesagt, dachte er:
Du redest zu viel, lass das sein!
    Eigentlich müsste dieses Haus seinem Vater gefallen. Phil Golding war der wahre Dichter der Familie, und als solcher müsste ihn dieses Haus gefühlsmäßig ansprechen. Wahrscheinlich würde er sogar Reubens Mutter ganz begeistert davon erzählen, die eine solche Lobeshymne aber nur mit einer spöttischen Bemerkung quittieren würde. Dr. Grace Golding war eine praktisch veranlagte, zupackende Frau, und sie war es, die die Familiengeschicke lenkte. Sie war es auch, die Reuben den Job beim
San Francisco Observer
besorgt hatte, obwohl er nichts als einen Master in Englischer Literatur und eine Weltreise pro Jahr vorzuweisen hatte.
    Grace war stolz auf den investigativen Journalismus, den er neuerdings betrieb, aber diese «Maklergeschichte» hielt sie für reine Zeitverschwendung.
    «Jetzt träumen Sie schon wieder», sagte Marchent, legte ihren Arm um seine Schultern, lachte und küsste ihn auf die Wange.
    Damit hatte Reuben nicht gerechnet, und es ging ihm durch und durch, als er ihre weichen Brüste spürte und ihr schweres, dezent aufgetragenes Parfüm roch.
    «Um ehrlich zu sein, habe ich bis jetzt noch nichts Nennenswertes zustande gebracht», sagte er mit einer Vertraulichkeit, die ihn selbst
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