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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
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passieren soll. Aber sollte das Haus morgen verkauft werden, würde ich alles in ein gutklimatisiertes Lagerhaus schaffen lassen und mich später in Ruhe um die Sachen kümmern.»
    «Was genau hat er denn erforscht? War er auf der Suche nach etwas Bestimmtem?»
    «Er hat nie darüber gesprochen. Einmal hat er gesagt: ‹Die Welt braucht Beweise. So viel ist schon verloren gegangen.› Ich glaube aber, das hat er ganz allgemein gemeint. Jedenfalls weiß ich, dass er Ausgrabungen finanziert hat. Er hatte auch viel Kontakt zu Archäologie- und Geschichtsstudenten. Hier gab einer dem anderen die Klinke in die Hand. Vielen hat er Privatstipendien gegeben.»
    «Das ist ja großartig», sagte Reuben. «Was für ein Leben!»
    «Nun, er konnte es sich leisten. Er war ein reicher Mann, das wusste ich schon immer, aber erst als ich sein Erbe antrat, habe ich begriffen,
wie
reich er war. Soll ich Sie einmal herumführen?»
    Die Bibliothek war großartig.
    Reuben bewunderte die Büchersammlung, obwohl er sich sicher war, dass in diesem Zimmer kein Mensch je einen Brief geschrieben oder ein Buch gelesen hatte. Vielmehr schien es eine dieser Vorzeigebibliotheken zu sein. Marchent bestätigte seine Vermutung. Der antike französische Schreibtisch war auf Hochglanz poliert, seine Messingbeschläge strahlten wie aus purem Gold.
    Die Regale reichten bis an die Decke und enthielten die wichtigsten Klassiker. Sie waren ledergebunden, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie in einen Rucksack zu packen oder in einem Flugzeug zu lesen. Es gab auch ein zwanzigbändiges Wörterbuch der englischen Sprache, eine alte Ausgabe der
Encyclopaedia Britannica
, großformatige Kunstbände, Atlanten und dicke Bücher, deren vergoldete Titel längst verblichen waren.
    Es war ein ehrfurchteinflößender Raum. Reuben stellte sich vor, wie sein Vater hier am Schreibtisch saß, während es draußen, hinter den bleiverglasten Fenstern, langsam dunkel wurde, oder in dem Plüschsessel am Fenster saß und las. Die Fenster auf der Ostseite des Hauses erstreckten sich über mindestens neun Meter.
    Inzwischen war es so dunkel geworden, dass man den Wald nicht mehr sehen konnte, aber am Morgen würde man direkt hineinblicken. Reuben kam immer mehr zu der Überzeugung, dass dieses hier Phils Zimmer sein müsste, sollte er das Haus je kaufen. Bestimmt würde sein Vater ihm sogar zum Kauf raten, wenn Reuben ihm nur diese Bibliothek beschrieb. Sein Blick fiel auf das Eichenparkett mit den großen, quadratischen Intarsien und die alte Bahnhofsuhr an der Wand.
    Rote Samtvorhänge wurden von Messingstangen gehalten. Über dem Kamin hing ein großes Foto, das eine Gruppe von sechs Männern zeigte. Alle trugen Khakianzüge, hinter ihnen waren Bananenstauden und Tropenbäume zu sehen. Das Foto musste mit einer Planfilmkamera aufgenommen worden sein, denn es war gestochen scharf. Erst heute, im digitalen Zeitalter, konnte man Fotos so stark vergrößern, ohne die Qualität zu mindern. Das Foto hier war aber nicht bearbeitet oder retuschiert worden. Sogar die Fasern der Bananenblätter sahen aus wie eingraviert. Die feinsten Knitterfalten in den Jacken der Männer waren zu erkennen, genau wie der Staub auf ihren Stiefeln.
    Zwei von ihnen trugen Gewehre, die anderen standen mit leeren Händen lässig herum.
    «Ich habe es von einem kleineren Foto anfertigen lassen», sagte Marchent. «Es war ziemlich teuer, aber ich wollte kein Gemälde von meinem Onkel haben, sondern ein authentisches Foto. Deswegen habe ich mich für dieses Format entschieden, eins zwanzig mal eins achtzig. Sehen Sie den Mann in der Mitte? Das ist Onkel Felix. Es war das einzige aktuelle Foto, das ich vor seinem Verschwinden von ihm hatte.»
    Reuben sah es sich genauer an.
    Die Namen der Männer standen in schwarzer Tinte auf dem unteren Rand, aber Reuben konnte sie schlecht lesen.
    Marchent schaltete den Kronleuchter an, und nun sah Reuben ihren Onkel Felix klar und deutlich. Er war ein gutaussehender Mann mit dunkler Haut und dunklem Haar, groß und schlank. Er hatte die gleichen feingliedrigen Hände, die Reuben an Marchent so bewunderte, und auch das Lächeln der beiden ähnelte sich. Er schien ein liebenswürdiger Mensch zu sein, mit einer fast kindlichen Neugier und Begeisterungsfähigkeit. Sein Alter war schwer zu schätzen, es musste irgendwo zwischen zwanzig und fünfunddreißig liegen, obwohl er dem Erzählen nach älter gewesen sein musste.
    Auch die anderen Männer sahen interessant aus, wenn
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