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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
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sie Lust hat.
    Aber wahrscheinlich würde sie nie kommen.
    Reuben sah kurz auf und sagte sich, dass er seine Phantasie zügeln sollte. Schließlich war er gekommen, um Marchent Fragen zu stellen. Die aber blickte nachdenklich ins Feuer und schien es nicht eilig zu haben, das Gespräch fortzusetzen. Also hing auch er weiter seinen Gedanken nach.
    «Nur dass ich es richtig verstehe», würde Celeste sagen. «Ich arbeite sieben Tage die Woche, und du hast einen Job in San Francisco. Willst du jetzt etwa jeden Tag vier Stunden zur Arbeit fahren?»
    Es wäre die letzte große Enttäuschung, die er ihr bereitete. Die erste war, dass er nicht wusste, wer er war. Sie hatte ihr Jurastudium in Rekordzeit absolviert und mit zweiundzwanzig die Zulassung zum Gericht bekommen. Er dagegen hatte sein Studium geschmissen, weil er nicht genug Scheine in einer Fremdsprache vorweisen konnte und im Übrigen ohnehin keinen Lebensplan hatte. Lieber hörte er sich Opern an, las Gedichte und Abenteuerromane, reiste alle paar Monate nach Europa und raste mit seinem Porsche jenseits des Tempolimits durch die Gegend – immer auf der Suche nach seinem wahren Ich. Genauso hatte er das einmal zu ihr gesagt, und sie hatte gelacht. Beide hatten sie gelacht. «Wenn du meinst, dass du so ans Ziel kommst, Sonnyboy …», hatte sie gesagt. «Ich dagegen habe jetzt einen Termin bei Gericht.»
    Marchent probierte den Kaffee. «Heiß genug», sagte sie.
    Sie schenkte Reuben etwas in eine Porzellantasse und zeigte auf das silberne Milchkännchen und das silberne Zuckerschälchen. Alles hier war so geschmackvoll, so kultiviert. Aber Celeste würde es wahrscheinlich spießig finden, und seine Mutter hätte bestimmt überhaupt keinen Blick dafür. Grace hatte eine Abneigung gegen alles Häusliche, außer Festessen. Und für Celeste war die Küche ein Ort, an dem man Cola light aufbewahrte. Seinem Vater hingegen gefiel es hier gewiss. Er wusste über so vieles Bescheid, unter anderem über Silber- und Porzellangeschirr, die Geschichte der Gabel, Weihnachtsbräuche in aller Welt, die Geschichte der Mode, Kuckucksuhren, Wale, Weine und Baustile. Reubens Spitzname für ihn war «Miniver Cheevy», nach dem romantischen Helden aus einem Gedicht Edwin Arlington Robinsons, der sein Leben damit verbrachte, sich in vergangene Epochen zu träumen.
    Tatsache war, dass Reuben sehr schätzte, was er hier zu sehen bekam, vom überdimensionalen Kamin bis zu den kunstvollen Buchstützen.
    «Und was brütet Ihr Dichterhirn jetzt gerade aus?», fragte Marchent.
    «Ach … Die Deckenbalken, sie sind riesig, vielleicht die längsten, die ich je gesehen habe. Und dann die Perserteppiche mit dem typischen Blumendekor … Nur der kleine Gebetsteppich dort ist nicht persisch. Unter diesem Dach wohnt bestimmt kein böser Geist.»
    «Keine negative Energie, meinen Sie? Da haben Sie recht. Aber Sie können sicher verstehen, dass ich immer um Onkel Felix trauern würde, wenn ich hierbliebe. Er war ein bemerkenswerter Mann. Inzwischen ist mir übrigens wieder eingefallen, wie das mit seinem Verschwinden damals war. Ich war achtzehn, als er hier aus der Haustür ging, um nach Vorderasien zu reisen.»
    «Warum Vorderasien?», fragte Reuben. «Was wollte er dort?»
    «An einer archäologischen Grabung teilnehmen. Das tat er oft. Das letzte Mal sollte es in den Irak gehen. So wie ich es verstanden hatte, ging es um die Ausgrabung einer antiken Stadt, die gerade entdeckt worden war und so alt wie Mari oder Uruk sein sollte. Aber ob das stimmt, habe ich nie herausgefunden. Jedenfalls war er vor der Reise ganz aufgeregt, was ungewöhnlich war. Wochenlang hatte er mit Freunden in aller Welt telefoniert. Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Er verreiste oft und kam immer wieder zurück. Wenn es nicht gerade um eine Ausgrabung ging, war es eine Bibliothek irgendwo auf der Welt, wo einer seiner zahlreichen Gelehrtenfreunde ein altes Manuskript aufgestöbert hatte, das noch nie katalogisiert worden war. Dutzende arbeiteten für ihn, und ständig schickten sie ihm ihre Forschungsergebnisse. Er lebte losgelöst in seiner eigenen Welt.»
    «Er muss Aufzeichnungen hinterlassen haben, wenn er so sehr mit diesen Dingen beschäftigt war», sagte Reuben.
    «Aufzeichnungen? Sie machen sich ja kein Bild davon,
wie
viele! Die Zimmer oben sind voll davon. Manuskripte, Ordner, zerfledderte Bücher … All das müsste einmal durchgesehen werden, und jemand müsste entscheiden, was mit all dem Zeug
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