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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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Sprechen war bei dem gewaltigen Getöse zwecklos. Eine Minute standen alle da und warteten, dass sie wieder etwas sagen konnten. Als das Flugzeug abgehoben hatte und steil aufstieg, hatte Park endlich alles durchschaut.
    Buc sagte zu Kommandant Park: »Ich gehe dir mal ein Pflaster holen.«
    »Nein«, sagte Park und blickte zu Boden. »Niemand rührt sich vom Fleck.« Zum Geliebten Führer sagte er: »Wir müssen davon ausgehen, dass Kommandant Ga hier seine Hand im Spiel hatte.«
    »Kommandant Ga?«, fragte der Geliebte Führer und zeigte auf ihn: »Er?«
    »Er ist mit den Amerikanern befreundet«, sagte Park. »Und jetzt sind die Amerikaner weg. Und Sun Moon auch.«
    Der Geliebte Führer hob den Kopf und suchte den Himmel nach dem amerikanischen Flugzeug ab. Dann sah er Ga an, absolute Fassungslosigkeit im Gesicht. Seine Augen huschten umher, von einer Möglichkeit zur anderen, er rätselte über all die unmöglichen Dinge, die Sun Moon zugestoßen sein könnten. Dann wurde der Blick des Geliebten Führers vollkommen leer. Diesen Gesichtsausdruck kannte Ga nur zu gut. Es war das Gesicht, das auch er früher der Welt gezeigt hatte: Das eines Jungen, der alles geschluckt hatte, was mit ihm geschehen war, der aber noch sehr, sehr lange nicht verstehen würde, was es zu bedeuten hatte.
    »Ist das wahr?«, fragte der Geliebte Führer. »Heraus mit der Wahrheit!«
    Jetzt herrschte Stille, wo vorher der Motorenlärm des Flugzeugs gewesen war.
    »Jetzt wissen Sie etwas über mich«, sagte Ga zum Geliebten Führer. »Ich habe Ihnen ein Stück von mir gegeben, und jetzt wissen Sie, wer ich wirklich bin. Und ich weiß etwas über Sie.«
    »Was redest du da für ein Zeug?«, herrschte der Geliebte Führer ihn an. »Sag mir, wo Sun Moon ist!«
    »Ich habe Ihnen das Wichtigste genommen. Ich habe lediglich an einem Fädchen gezupft, und schon lösen Sie sich auf.«
    Der nur halbwegs wiederhergestellte Kommandant Park richtete sich auf. Er reckte das blutige Kartonagenmesser hoch.
    Mit einem Finger gebot ihm der Geliebte Führer Einhalt.
    »Und jetzt wirst du mir die Wahrheit sagen, mein Junge«, sagte der Geliebte Führer langsam und streng zu Ga. »Hast du ihr etwas angetan?«
    »Die große Narbe, die auf meiner Seele ist, die haben Sie jetzt auch«, antwortete Ga. »Ich werde Sun Moon nie wiedersehen. Und Sie auch nicht. Von jetzt an werden wir in unserem Verlust wie Brüder sein.«
    Kommandant Park machte ein Zeichen, und zwei seiner Männer packten Ga, wobei sie ihre Daumen tief in seinen Bizeps drückten.
    »Meine Mitarbeiter in Abteilung 42 kümmern sich um ihn«, teilte Park dem Geliebten Führer mit. »Kann ich ihn an die Pubjok übergeben?«
    Doch der Geliebte Führer gab keine Antwort. Erneut betrachtete er das Umkleidehäuschen, den hübschen kleinen Tempel mit den Kleidern darin.
    Kommandant Park erteilte selbst den Befehl. »Bringt Ga zu den Pubjok«, wies er seine Männer an. »Und die Staplerfahrer könnt ihr auch gleich alle mitnehmen.«
    »Einen Augenblick«, sagte Ga. »Buc hatte nichts damit zu tun.«
    »Stimmt«, sagte Genosse Buc. »Ich habe nichts getan.«
    »Tut mir leid«, sagte Kommandant Park zu Buc. »Aber die Strafe, die auf diese Sache folgt, die kann ein einzelner Mann unmöglich tragen. Sogar auf euch alle verteilt wird sie noch unerträglich sein.«
    »Geliebter Führer«, bettelte Buc. »Ich bin es, Ihr engster Genosse! Wer besorgt Ihnen den Kognak aus Frankreich und die Seeigel aus Hokkaid¯o? Wer hat Ihnen jede Zigarettenmarke der Welt beschafft? Ich bin loyal. Ich habe Familie.« An dieser Stelle trat Buc beschwörend einen Schritt auf ihn zu: »Ich habe nie Republikflucht begangen«, sagte er. »Ich bin jedes Mal wieder zurückgekommen.«
    Doch der Geliebte Führer hörte nicht hin. Er starrte nur Kommandant Ga an.
    »Ich verstehe nicht, wer du bist«, sagte der Geliebte Führer. »Du hast meinen Erzfeind getötet. Du bist aus dem Straflager 33 geflüchtet. Du hättest dich endgültig absetzen können. Doch hier stehst du vor mir. Welcher Mensch tut so was? Wer kommt und stellt sich vor mich hin, wer wirft sein eigenes Leben weg, nur um mir die Laune zu verderben?«
    Ga blickte hoch zu dem Kondensstreifen am Himmel und verfolgte ihn bis zum Horizont. Eine Welle der Befriedigung durchlief ihn. Ein Tag war mehr als nur ein Streichholz, das man anriss, nachdem alle anderen verglüht waren. In einem Tag würde Sun Moon in Amerika sein. Morgen würde sie an einem Ort aufwachen, an dem sie ein Lied
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