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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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aus den Tonnen. Fragen durften sie nicht stellen, und sie hätten sowieso nicht gewusst, welche sie hätten stellen sollen, jedenfalls noch lange nicht. Einen Augenblick lang bestaunte Ga sie, sie und dieses unschuldige Ereignis, das sich gleich abspielen würde. Auf einmal war alles so klar. Niemand setzte seine Kinder freiwillig aus, es gab nur Menschen in unmöglichen Situationen, Menschen, die schlicht und einfach keine andere Wahl hatten. Wenn die ihnen ansonsten drohende Gefahr schlimmer war, dann wurden die Kinder nicht ausgesetzt, sondern gerettet. Er war gerettet worden, das war ihm jetzt klar. Eine Schönheit war seine Mutter gewesen, eine Sängerin. Deswegen erwartete sie ein schreckliches Schicksal – sie hatte ihn nicht ausgesetzt, sie hatte ihn vor dem gerettet, was vor ihr lag. Und diese Palette mit den vier weißen Plastiktonnen wirkte plötzlich auf ihn wie das Rettungsfloß, von dem sie an Bord der Junma immer geträumt hatten – die Rettungsinsel, die bedeutete, dass sie nicht zusammen mit dem Schiff untergehen würden. Einmal hatten sie das Floß leer davonschwimmen lassen müssen, und nun war es zurückgekommen. Es war da, um die wertvollste Fracht der Welt aufzunehmen. Er wuschelte den beiden sprachlosen Kindern durch die Haare – sie wussten nicht einmal, dass sie gerettet wurden, und erst recht nicht, wovor.
    Als Sun Moon in Silber gewandet war, verschwendete Ga keine Zeit darauf, sie zu bewundern. Er hob sie hoch, und als sie in der Tonne war, drückte er ihr den Laptop in die Hand.
    »Hier ist dein Transitvisum«, erklärte er ihr.
    »Genau wie in unserem Film«, sagte sie und lächelte ungläubig.
    »Haargenau«, sagte er. »Dein goldener Passierschein nach Amerika.«
    »Hör zu«, sagte sie. »Hier sind vier Tonnen, eine für jeden von uns. Ich weiß genau, was du denkst, aber sei nicht dumm. Du hast mein Lied gehört, du hast gesehen, was er für ein Gesicht gemacht hat.«
    »Kommst du nicht mit?«, fragte das Mädchen.
    »Psst!«, machte Sun Moon.
    »Und was ist mit Brando?«, fragte der Junge.
    »Der kommt mit«, versicherte Ga ihnen. »Den will der Geliebte Führer dem Senator zurückgeben, weil er angeblich zu aggressiv für die friedliebenden Bürger unseres Landes ist.«
    Die Kinder fanden das gar nicht lustig.
    »Werden wir dich jemals wiedersehen?«, wollte das Mädchen wissen.
    »Ich werde euch sehen«, sagte Ga und drückte ihr den Fotoapparat in die Hand. »Wenn du damit ein Foto machst, dann kann ich das hier auf meinem Telefon sehen.«
    »Aber was sollen wir denn fotografieren?«, fragte der Junge.
    »Egal was. Alles, was ihr mir zeigen wollt. Was euch froh macht«, antwortete er.
    »Schluss damit«, verkündete Sun Moon. »Ich habe getan, was du von mir wolltest, ich trage dich jetzt in meinem Herzen. Das ist das Einzige, womit ich mich auskenne: Sich nicht zu trennen, die Familie zusammenzuhalten, egal, was passiert.«
    »Du bist auch in meinem Herzen«, antwortete Ga. Dann hörte er Bucs Gabelstapler und klopfte die Deckel auf die Tonnen.
    Brando war davon ausgesprochen beunruhigt; jaulend tanzte er um die Fässer.
    In das vierte Fass schüttete Kommandant Ga alles, wasnoch im Gitarrenkoffer war. Tausende von Fotografien flatterten hinein – all die armen Seelen vom Straflager 33, ein jedes Foto mit Namen, Eintrittsdatum und Todestag.
    Ga klappte die Tempelrückwand auf und dirigierte Buc heran.
    Genosse Buc war leichenblass. »Ziehen wir das wirklich durch?«, fragte er.
    »Fahr im großen Bogen um die Menge herum«, wies Ga ihn an. »Damit es so aussieht, als ob du aus der anderen Richtung kommst.«
    Buc hob die Palette an und schaltete in den Rückwärtsgang, fuhr aber noch nicht los.
    »Du gestehst ja, richtig?«, fragte Genosse Buc. »Der Geliebte Führer erfährt, dass du das alles veranstaltet hast?«
    »Das erfährt er, vertrau mir«, antwortete Ga.
    Als Buc zurücksetzte und die Tonnen ins Licht hob, sah Ga voller Grauen, wie deutlich die Umrisse der Menschen in den Fässern zu sehen waren – wie Raupen, die sich in ihren weißen Kokons wanden.
    »Ich glaube, wir haben die Luftlöcher vergessen«, sagte Buc.
    »Fahr einfach«, befahl Ga.
    Draußen auf der Startbahn gesellte sich Ga zum Geliebten Führer und zu Kommandant Park; sie leiteten Kindermannschaften an, die Plastikfässer auf die Gabelstaplerpaletten zurollten. Die Bewegungen der Kinder waren einstudiert, aber ohne die Marschmusik einer Kapelle erinnerten ihre pantomimischen Bewegungen eher an die
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