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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Autoren: Adam Johnson
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dem sicheren Tod bewahrt«, sagte der Geliebte Führer. »Ihre Nation hat unser Hoheitsgebiet verletzt, unser Schiff geentert und mich bestohlen. Ich kriege zurück, was Sie mir geklaut haben, bevor Sie das wiederkriegen, was ich gerettet habe.« Er machte eine herrische Handbewegung. »Jetzt zum Unterhaltungsprogramm.«
    Eine Truppe kleiner Ziehharmonikavirtuosen kam nach vorn gerast und spielte mit professioneller Präzision Unser Vater ist der Marschall . Das Lächeln war auf allen kleinen Gesichtern gleich, und die Menge wusste, wann sie zu klatschen und »Ewig brennt des Marschalls Flamme!« zu brüllen hatte.
    Sun Moon, ihre Kinder hinter sich, war tief bewegt von den Akkordeon spielenden Kindern, die, perfekt im Takt, ihre kleinen Körper, wenngleich etwas krampfhaft, zur Melodie fröhlich mitschwangen. Still liefen Sun Moon die Tränen herunter.
    Der Geliebte Führer bemerkte ihre Tränen – sie zeigte sich erneut verletzlich. Er gab Kommandant Ga ein Zeichen, dass es für Sun Moon an der Zeit sei, sich auf ihr Lied vorzubereiten.
    Ga führte sie an der Menschenmenge vorbei an den Rand des Rollfeldes, wo nichts mehr war als die mit verrosteten Flugzeugteilen übersäte Wiese, bis hinüber zum Hochspannungszaun, der das Flugfeld umgab.
    Langsam drehte Sun Moon sich im Kreis und nahm das Nichts um sie herum in sich auf.
    »In was hast du uns da nur gebracht?«, fragte sie. »Wie sollen wir hier lebend herauskommen?«
    »Ganz ruhig. Tief durchatmen«, sagte er.
    »Was ist, wenn er mir wirklich einen Dolch in die Hand drückt, wenn ich irgendeinen Loyalitätstest bestehen muss?« Ihre Augen weiteten sich. »Was ist, wenn ich einen Dolch bekomme und es kein Test ist?«
    »Der Geliebte Führer wird dich nicht vor einem amerikanischen Senator auffordern, eine Amerikanerin zu erstechen.«
    »Du kennst ihn immer noch nicht«, erwiderte sie. »Er hatUnglaubliches vor meinen Augen getan – ob Freund oder Feind, bei Partys oder sonst wo. Es spielt keine Rolle. Er kann tun, was er will – alles, was er will.«
    »Heute nicht. Heute sind wir diejenigen, die tun können, was sie wollen.«
    Sie lächelte ein verängstigtes, nervöses Lächeln. »Es klingt so gut, wenn du das sagst. Ich will es so gerne glauben.«
    »Warum glaubst du’s dann nicht?«
    »Hast du wirklich solche Dinge getan?«, fragte sie. »Hast du Menschen entführt und ihnen schlimme Dinge angetan?«
    Kommandant Ga lächelte. »Na komm. Ich bin der Gute in dieser Geschichte.«
    Sie lachte ungläubig: »Du sollst der Gute sein?«
    Ga nickte. »Ob du’s glaubst oder nicht – ich bin der Held.«
    Plötzlich sahen sie, wie Genosse Buc sich ihnen im Kriechtempo in einem tiefgelegten Kranfahrzeug näherte, mit dem sonst Flugzeugtriebwerke hochgehoben wurden. An den Ketten hing Sun Moons Umkleidekabine.
    »Ich musste auf größeres Gerät umsteigen«, rief Buc ihnen zu. »Wir haben die ganze Nacht an dem Ding gewerkelt. So was kann man nicht einfach da hinten stehenlassen.«
    Das Holz des Tempelchens ächzte, als es den Boden berührte, aber Sun Moons Silberschlüssel passte ins Schloss. Zu dritt traten sie ein, und Buc zeigte ihnen, dass sich die Rückwand der Kabine wie das Gatter eines Korrals an einem Scharnier öffnete – so weit, dass die Gabeln des Gabelstaplers hineinpassten.
    Sun Moon berührte Bucs Gesicht mit den Fingerspitzen und sah ihm tief in die Augen. Das war ihre Art, Dankeschön zu sagen. Oder vielleicht war es auch ein Lebewohl. Buc hielt ihrem Blick stand, solange er konnte, drehte sich dann um und lief schnell in Richtung seines Gabelstaplers.
    Ohne ihre frühere Scham zog Sun Moon sich vor ihrem Ehemann um, und während sie ihr Goreum band, fragte sie: »Du hast wirklich keine Familie?« Als er nicht antwortete, fragte sie: »Keinen Vater, der dir Rat gibt, keine Mutter, die dir etwas vorsingt? Keine einzige Schwester?«
    Er zog das Ende ihrer Schleife gerade.
    »Bitte, du musst jetzt auftreten. Gib dem Geliebten Führer genau das, was er will.«
    »Ich habe keine Kontrolle über das, was ich singe«, entgegnete sie.
    Bald darauf stand sie, in Blau, mit ihrem Mann wieder an der Seite des Geliebten Führers. Die Akkordeondarbietung kam gerade zu ihrem Höhepunkt, die kleinen Turner waren in drei Etagen aufeinandergetürmt. Ga sah, dass Kim Jong Il den Blick gesenkt hatte – Kinderlieder voller Ausgelassenheit und ungebremster Begeisterung berührten ihn wirklich. Als das Lied zu Ende war, machten die Amerikaner eine geräuschlose
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