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Das Geheimnis des Viscounts

Titel: Das Geheimnis des Viscounts
Autoren: Elizabeth Hoyt
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der Laufpass gegeben worden war. Wenngleich, beim ersten Mal war es Emeline gewesen, die — wie man fairerweise erwähnen sollte — ihm mehr Schwester als Geliebte gewesen war. Dennoch. Dennoch könnte ein Gentleman sehr wohl ...
    Das leise Knarren der Tür zur Sakristei riss Jasper aus seinen Gedanken. Er sah auf.
    Eine große schlanke Frau stand unschlüssig an der Tür. Jasper erinnerte sich dunkel. Sie war eine Freundin von Emeline — diejenige, deren Namen er sich nie merken konnte.
    „Entschuldigen Sie, habe ich Sie geweckt?", fragte sie.
    „Nein, ich habe nur kurz ausgeruht."
    Sie nickte, warf einen raschen Blick über die Schulter und schloss die Tür hinter sich.
    Was sollte das? Es war recht unschicklich. Gespannt hob Jasper die Brauen. Er hatte bislang nicht den Eindruck gehabt, dass sie zu theatralischen Szenen neigte, aber ganz offensichtlich hatte sein Eindruck ihn getrogen.
    Sie hielt sich sehr aufrecht, die Schultern gestrafft, das Kinn leicht erhoben. Trotz ihrer Größe war sie unscheinbar. Ein Mann dürfte Mühe haben, sich überhaupt an ihr Gesicht zu erinnern. Vermutlich konnte er sich deshalb ihren Namen nicht merken. Ihr Haar war von unbestimmter Farbe — nicht blond, nicht braun — und zu einem Knoten aufgesteckt. Ihre Augen waren braun, das Kleid graubraun mit einem schlichten Ausschnitt, der ein dürftiges Dekolleté zeigte und feine Alabasterhaut, die Jasper dann doch bemerkenswert fand. Jenes durchscheinende, leicht bläulich schimmernde Marmorweiß, das aus nächster Nähe betrachtet ein Geäst feiner Adern unter der zarten, blassen Haut erkennen ließe.
    Wohlweislich hob er den Blick wieder zu ihrem Gesicht. Reglos hatte sie dagestanden und seine Musterung über sich ergehen lassen, doch auf ihren Wangen zeigte sich ein rosiger Hauch.
    Dieses Zeichen leisen Unbehagens ließ ihn sich wie ein ausgemachter Schuft fühlen. Folglich fielen seine Worte auch weniger freundlich aus als beabsichtigt. „Kann ich irgendetwas für Sie tun, Ma'am?"
    Sie antwortete mit einer Gegenfrage. „Stimmt es, dass Mary Sie nicht mehr heiraten will?"
    Er seufzte. „Wie es aussieht, schlägt ihr törichtes Herz für einen Landpfarrer. Da kann ein Viscount nicht mithalten."
    Sie verzog keine Miene. „Sie lieben sie nicht."
    „Traurig, aber wahr", sagte er und hob entschuldigend die Hände. „Wenngleich nur ein ausgemachter Schuft dies so nonchalant bekennen würde."
    „Dann hätte ich Ihnen einen Vorschlag zu machen."
    „So?"
    Sie verschränkte die Hände vor sich und tat das Unmögliche: Sie hielt sich noch aufrechter als zuvor. „Wie wäre es, wenn Sie stattdessen mich heiraten?"
    Melisande Fleming gebot sich, ganz still zu stehen und Lord Vale in die Augen zu sehen, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne mädchenhaftes Erröten. Schließlich war sie kein junges Mädchen mehr. Sie war eine Frau von achtundzwanzig Jahren, jenseits aller Träume von Orangenblüten und einer Hochzeit im Mai. Genaugenommen jenseits aller Hoffnung, je ihr Glück zu finden. Aber die Hoffnung schien ein zähes Ding, kaum kleinzukriegen.
    Ihr Vorschlag war ausgesprochen lächerlich. Lord Vale war ein vermögender Mann, betitelt noch dazu und in den besten Jahren. Ein Mann kurzum, der freie Wahl hatte unter den reizendsten jungen Mädchen, allesamt jünger und schöner als sie. Auch wenn man ihm gerade für einen armen Landpfarrer den Laufpass gegeben hatte.
    Und so machte Melisande sich auf Gelächter gefasst, auf Spott oder, schlimmer noch, Mitleid.
    Doch Lord Vale sah sie einfach nur an. Vielleicht hatte er sie ja nicht verstanden. Seine schönen blauen Augen waren etwas blutunterlaufen, und so wie er sich eben den Kopf gehalten hatte, vermutete sie, dass er seine anstehende Vermählung am Abend zuvor ein wenig zu ausgiebig gefeiert hatte.
    Die langen Beine von sich gestreckt, lümmelte er auf seinem Stuhl und beanspruchte entschieden zu viel Raum für sich. Ungehörig starrte er sie an, mit diesen unglaublich strahlenden grünblauen Augen. Selbst blutunterlaufen schienen sie von innen heraus zu leuchten, doch waren sie im Grunde das einzig Schöne an ihm. Sein Gesicht war lang und schmal, mit tiefen Falten um Augen und Mund. Auch seine Nase war lang und unverhältnismäßig groß geraten. Seine äußeren Augenwinkel hingen etwas herab, was ihn stets ein wenig schläfrig wirken ließ. Und sein Haar ... nun ja, das war eigentlich auch schön: kräftig und gelockt, von warmer, rotbrauner Farbe. Bei jedem anderen Mann
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