Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Autoren: Dryas Verlag
Vom Netzwerk:
Michael hatte Lady Audley sie zu ihrer Zofe gemacht.
    Für Phoebe war das ein besonderer Glücksfall ­gewesen, denn ihr Lohn hatte sich dadurch verdreifacht, und ihre Arbeit im wohlgeordneten Haushalt von Audley Court war nicht schwer. Sie wurde daher von ihren eigenen Freunden ebenso beneidet wie Mylady selbst von den Damen der höheren Gesellschaft.
    Ein Mann saß auf dem zerfallenen Holzwerk des ausgedienten Brunnens. Er fuhr zusammen, als die Kammerzofe plötzlich aus dem dämmrigen Schatten der Linden heraustrat und vor ihm stand. Er klappte sein Messer zusammen, mit dem er die Rinde von einem Ast abgehobelt hatte. „Wollte nur sehen, ob du schon zurück bist, Phoebe.“
    Sie wies zu einem der Fenster im Westflügel hoch. „Ich konnte dich von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen, Luke.“
    Der Mann war ein grobschlächtiger, breitschultriger, etwas tölpelhaft aussehender Bauernbursche von ­ungefähr dreiundzwanzig Jahren. Sein dunkelroter Haarschopf fiel ihm tief in die Stirn, und seine buschigen Augenbrauen waren über seinen graugrünen Augen zusammen­gewachsen. Der Mund hatte eine grobe Form und zeigte einen primitiven Ausdruck. Mit seinen geröteten Wangen, dem roten Haar und seinem an einen Stier ­gemahnenden Nacken war er einem der stämmigen Ochsen, die auf den Weiden rund um Audley Court grasten, gar nicht so unähnlich.
    Phoebe setzte sich neben Luke auf das Holzwerk und umschlang mit ihrer Hand, die in ihrem leichten Dienst ganz weiß und zart geworden war, seinen breiten Nacken. „Bist du froh, mich zu sehen, Luke?“, fragte sie.
    „Natürlich bin ich froh, Mädchen“, antwortete er schroff, klappte sein Messer wieder auf und schabte weiter an dem Holzstecken. Sie waren Cousin und Cousine ersten ­Grades, in ihrer Kindheit Spielkameraden und seit ihrer frühen Jugend ein Paar.
    „Du erweckst aber nicht den Eindruck, als ob du froh wärest“, meinte das Mädchen. „Du könntest mich ruhig einmal ansehen, Luke, und mir sagen, ob du glaubst, dass die Reise mir gutgetan hat.“
    „Sie hat deinen Backen jedenfalls keine Farbe gegeben, mein Mädchen“, entgegnete er, indem er ihr unter seinen finsteren Augenbrauen einen flüchtigen Blick zuwarf. „Du bist genauso weiß, wie du warst, als du weggingst.“
    „Aber es heißt doch, Reisen bildet die Leute und macht vornehm, Luke. Ich bin mit Mylady auf dem Kontinent gewesen, an den sonderbarsten Orten. Sehr vornehm.“
    „Vornehm!“, rief Luke und lachte aus vollem Hals. „Ich frag’ mich, wer es denn will, dass du vornehm bist? Ich auf jeden Fall nicht! Wenn du meine Frau bist, hast du sowieso nicht viel Zeit fürs Vornehmsein, Mädchen.“
    Sie biss sich auf die Lippen. Das Gesicht von ihrem ­Cousin abgewandt, sagte sie schließlich: „Was für eine großartige Sache es doch für die ehemalige Miss ­Graham ist, mit Zofe, Reisediener und vierspänniger Kutsche zu ­reisen. – Was war sie schon in Mr Dawsons Haushalt vor nur drei Monaten! Sie war ein Dienstbote, so wie ich. Du hättest ihre schäbigen Kleider sehen sollen, Luke, ­abgetragen, geflickt und gestopft, gewendet und gedreht. Heute bin ich ihre Kammerzofe und bekomme mehr Geld, als sie selbst früher von Mr Dawson erhalten hat.“
    „Kümmere dich nicht um sie“, erwiderte Luke, „denk lieber an dich, Phoebe. Was hältst du von einem Wirtshaus für dich und mich, mein Mädchen? Man kann viel Geld aus einem Wirtshaus rausholen.“
    Das Mädchen hörte ihm nicht zu. „Du solltest das Innere des Hauses sehen, Luke. Von außen wirkt es ­ziemlich baufällig, aber du solltest die Räume von Mylady ­einmal sehen. Alles ist voller Bilder, Goldveredelungen und ­Spiegel, die von der Decke bis zum Boden reichen. Es gibt bemalte Zimmerdecken, die Hunderte von Pfund gekostet haben, wie die Haushälterin mir erzählt hat. Und alles wurde nur für sie gemacht!“
    „Sie hat eben Glück gehabt“, murmelte Luke mit träger Gleichgültigkeit.
    „Auf unserer Reise war sie stets von einer Traube von Gentlemen umgeben. Sir Michael aber war nicht eifer­süchtig, sondern stolz darauf, dass sie so bewundert wurde. Wo immer sie auftrat, jeder war sogleich vernarrt in sie. Ihr Gesang, ihr Klavierspiel, ihre Zeichnungen, wie sie tanzte, ihr reizendes Lächeln und die goldenen Locken! Wo wir uns auch aufhielten, überall stand sie im Mittelpunkt.“
    „Ist sie heute Abend zu Hause?“
    „Nein, sie ist mit Sir Michael zu einer Dinnerparty gefahren. Sie werden erst nach elf Uhr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher